Im Bann der Liebe
Sobald es wärmer wird, werde ich mit Victoria einen kleinen Spaziergang machen.
3
Der Laden war wie üblich voll, als Aubrey eintrat, aber diesmal blieb er nicht stehen, um mit einem seiner Verkäufer zu scherzen oder einem rauen Burschen zur Begrüßung auf die Schulter zu klopfen, wie er es sonst zu tun pflegte. Seine Gedanken waren woanders, vor allem bei Miss Susannah McKittrick, der Freundin seiner verstorbenen Frau und dem neuesten Mitglied seines Haushaltes. Tatsächlich hatte er nicht aufgehört, an sie zu denken, seit sie am Vortag völlig unerwartet bei ihm im Flur gestanden hatte, auch wenn er alles versucht hatte, um sie aus seinen Gedanken zu vertreiben.
Sie war keine Schönheit, nicht so, wie Julia es gewesen war, und doch hatten sich ihre Stimme, ihre Gesichtszüge und ihre Bewegungen so unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt, als wenn er sie schon sein ganzes Leben lang kennen würde. Zugleich war sie verwirrend geheimnisvoll für ihn. Es war ihm aufgefallen, dass sie intelligent war und dass sich verborgene Welten unter einer Oberfläche verbargen, die es zu erforschen galt. Er wollte all ihre Geheimnisse erfahren, auch die, die sie vor sich selber hatte, aber es war nicht sehr wahrscheinlich, dass er dieses Ziel erreichen würde. Susannah schien eine Welt für sich zu sein, und nicht einmal ein ganzes Leben würde ausreichen, um alle Schichten ihres Wesens, Herzens und Geistes aufzudecken.
Ein ganzes Leben. Aubrey blieb erschüttert mitten auf der Treppe, die zu seinem Büro führte, stehen. Nach Julia hatte er sich geschworen, nie mehr in solchen Dimensionen zu denken, und doch stand er nur vier Monate nach ihrem Tod hier und grübelte über die liebenswerten Seiten von Miss Susannah McKittrick nach. Solche Fantasien waren nicht gut für ihn, es wäre viel besser, wenn er sich auf die geschickte, aber oberflächliche Delphinia konzentrierte, die bereitwillig in ihrer Suite im Pacific Hotel auf ihn wartete.
Er hatte wirklich vorgehabt, sie in der vergangenen Nacht aufzusuchen, aber stattdessen hatte er besagte Nacht grübelnd in seinem Arbeitszimmer verbracht.
Mit finsterem Gesicht kam er oben an und stürmte an Jim Hawkins, seinem Sekretär, vorüber durch die offene Tür dahinter. Bis zum Vortag hatte er sich vor Leidenschaft nach der süßen Delphinia verzehrt, aber seit Miss McKittrick in seinem Haus und in seinen Gedanken aufgetaucht war, hatte er an der anderen Frau und der Affäre mit ihr die Lust verloren.
In seinem Büro angelangt, schlug er die Tür hinter sich zu, was Hawkins und den Buchhalter erschrocken zusammenfahren ließ. Hölle und Teufel, dachte er, warum ist Susannah nicht in Nantucket geblieben, wo sie hingehört? Allein dadurch, dass sie in sein Haus gekommen und auf seinem Bett eingeschlafen war, hatte sie eine bis dahin zufrieden stellende Situation für ihn kaputtgemacht. Er überlegte bereits, wie viel es ihn kosten würde, seine Mätresse auszuzahlen und ihr den Laufpass zu geben.
Dann fiel ihm sein Vorsatz ein, herauszufinden, ob Susannah diejenige war, die sie zu sein vorgab. Er ging zurück zur Tür, riss sie auf und rief: »Hawkins!«.
Der Sekretär sprang auf und warf dabei fast seinen Stuhl um. »Ja, Sir?«
»Holen Sie mir einen Mann von Pinkerton.«
Hawkins schluckte. Die Herbstsonne, die durch die Fenster hereinschien, spiegelte sich in seinen Brillengläsern. »Einen Mann von Pinkerton, Sir?«
Aubrey hatte nicht die Absicht, seine Handlungen näher zu erklären. »Verdammt, Hawkins«, bellte er, »Sie haben mich doch gehört!« Damit knallte er die Tür wieder zu und trat an seinen Schreibtisch. Das ist natürlich das Richtige, versuchte er sich selber zu überzeugen. Einen Detektiv anzuheuern. Falls Miss McKittrick wirklich die gute Freundin war, mit der Julia die ganze Zeit ihrer kurzen und stürmischen Ehe in Briefkontakt gestanden hatte, und der richtige Umgang für das Kind, würde er ihr eine ordentliche Summe zuweisen und sie beide direkt nach Massachusets verschiffen. Dann wäre das Problem gelöst und sein Gewissen rein. Großteils, jedenfalls.
Der Kinderwagen war auf dem Dachboden verstaut, wie Maisie gesagt hatte, und voller Staub, als ob er schon Jahre dort gestanden hätte. Das schien eine traurige Bilanz für Mr. Fairgrieves Einstellung sowohl zu seiner Frau als auch zu seinem Kind.
Seufzend machte Susannah sich daran, den hübschen Korbwagen so gut wie möglich zu reinigen, ehe sie ihn Stufe für Stufe die Treppe
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