Im Bann der Liebe
hatte. Sie würde Victorias Leben entscheidend mitprägen können.
Susannah nahm ein Buch und begann zu lesen.
Das Mittagessen wurde in der Küche eingenommen, wo Maisie in ihrem Schaukelstuhl am Herd saß und strickte. »Da ist ja meine Süße!«, rief sie, als sie das Baby auf Susannahs Arm erblickte. »Lassen Sie mich sie halten.«
Zu Susannahs Überraschung saß auch Aubrey am Tisch, der wesentlich erholter aussah als am Morgen, als er sich über den Lärm beschwert hatte. Sein Teller war schon leer, aber eine dampfende Tasse Kaffee stand vor ihm, die zu leeren ihm nicht eilig schien.
Er trug Geschäftskleidung -, das wurde auch Zeit, dachte
Susannah mitleidlos - einen gut geschnittenen Anzug mit passendem Mantel, der jetzt über einem Stuhl lag. Sein braunes Haar glänzte vom Bürsten, und in seinem Blick lag amüsierte Bewunderung, ehe er die Stirn runzelte.
»Guten Morgen, Miss McKittrick«, grüßte er und erhob sich kurz höflich aus seinem Stuhl.
Sie nahm einen Teller, trat an den Herd und füllte ihn. Es gab ein Bindfleischragout mit Kartoffeln und hinterher warme Kekse. »Hallo, Mr. Fairgrieve«, erwiderte sie und umging betont das gebotene »Guten Morgen«. Es war schließlich schon fast halb eins.
»Nennen Sie mich doch bitte Aubrey«, bat er.
Sie setzte sich. »Nennen Sie mich doch bitte Miss McKittrick«, erwiderte sie.
Er lachte. »Warum sind Sie so spröde?«
»Warum sind Sie so kühn?«, konterte sie.
Er lachte.
»Möchten Sie noch Tee haben, Miss McKittrick?«, warf Maisie ein.
»Nennen Sie mich doch Susannah«, erwiderte sie, und wieder lachte Aubrey. Es klang wunderbar, tief und männlich und doch irgendwie unschuldig. Sie konnte ihn sich als kleinen Jungen vorstellen, obwohl er fraglos ein Mann war.
Er erhob sich und brachte sein Geschirr zur Spüle, eine Geste, die Susannah verwirrte. Sie hatte noch nie gesehen, dass ein Mann sein Geschirr abräumte, aber andererseits hatte sie auch noch nicht oft mit einem Mann zusammen gegessen. Nur mit Mrs. Butterfields ungeschickten beiden Söhnen, die gelegentlich aus Boston zu Besuch gekommen waren und sich hatten bedienen lassen. »Ich sehe besser zu, dass ich in den Laden komme«, erklärte er. »Falls Sie irgendetwas brauchen, Miss McKittrick, schreiben Sie mir eine Liste. Und nehme n Sie sich doch noch von dem Ragout. Sie sind so dünn wie ein Spatz und so blass, als wollten Sie jeden Moment in Ohnmacht fallen.«
Susannah, eben noch so guter Dinge, nahm sich seine Bemerkung zu Herzen und sah plötzlich niedergeschlagen aus. Sie hatte sich nun fast für hübsch gehalten, wie töricht von ihr. »Ein Kinderwagen wäre schön«, erklärte sie, »falls nicht schon einer im Haus ist.«
Sie musste ihre verletzten Gefühle verraten haben. »Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte Aubrey und runzelte die Stirn.
»Ich finde, Susannah sieht heute Morgen regelrecht hübsch aus, wenn Sie mich fragen«, sprang Maisie ihm bei und klopfte dem Baby auf den Rücken.
»Ich habe Sie nicht gefragt«, gab Aubrey zurück. »Machen Sie eine Liste«, wandte er sich dann an Susannah. Dann, mit einem halb verblüfften, halb ärgerlichen Blick auf sie, erhob er sich, zog seinen Mantel an und holte eine Taschenuhr hervor. Im nächsten Moment war er verschwunden, und die Tür schlug hinter ihm zu.
»Auf dem Dachboden steht ein Kinderwagen«, sagte Maisie in die Stille nach seinem Weggang. »Mr. Fairgrieves Bruder Ethan hat ihn der Missus für das Baby geschenkt. Als sie gestorben ist, hat der Boss mich alles außer Sicht stellen lassen.«
Susannah hörte aufmerksam zu. Sie erinnerte sich aus Julias Briefen an den Namen Ethan, auch wenn sie seit ihrer Ankunft gar nicht mehr an ihn gedacht hatte. In den letzten sechs Monaten ihres Lebens schien Julia mehr über ihn als über ihren Mann zu sagen gehabt zu haben. »Sie hat Ethan sehr gemocht?«
»Das kann man wohl sagen«, gestand Maisie zu, auch wenn sie nicht boshaft klang.
Susannah wich innerlich zurück, noch nicht bereit, die Rolle von Mr. Fairgrieves jüngerem Bruder in der Beziehung näher auszuleuchten. Sie hatte jetzt schon viel zu viel gehört und musste erst einmal Ordnung in ihre Gedanken bringen.
»Wollen Sie wirklich keinen Tee mehr?«, drängte Maisie.
»Danke, nein.« Wieder überwältigte Susannah ihre Trauer, und rasch nahm sie das Baby auf, um Maisie, die den ganzen Morgen gearbeitet hatte, etwas Ruhe zu gönnen.
Ich werde auf die Suche nach dem Kinderwagen gehen, entschied sie.
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