Im Bann der Liebe
klar, »musst du mir den Hof machen. Und von jetzt an werde ich männliche Besucher empfangen.«
»Nicht in meinem Haus!«
Das beeindruckte sie nicht. »Außerdem«, fuhr sie fort, als hätte er nichts gesagt, »habe ich vor, Klavierunterricht zu geben. Wir haben bereits darüber gesprochen, falls du dich erinnerst. Du bist sehr großzügig, aber ich muss mein eigenes Geld verdienen, egal, wie wenig es sein wird.«
Niemand, nicht einmal Julia, hatte es je gewagt, seine Autorität dermaßen anzuzweifeln. Noch dazu unter seinem eigenen Dach. »Ich könnte dich auf der Stelle auf die Straße setzen«, drohte er, nicht sehr überzeugt von dem, was er sagte.
»Ja«, gestand sie zu und erhob sich langsam, um das Baby nicht zu wecken, das auf ihrem Arm eingeschlafen war. »Das könntest du. Aber Ethan würde mich sicher aufnehmen. Oder Mr. Hollister. Natürlich ist da auch immer noch Reverend Johnstone.«
Er rieb sich die rechte Schläfe. »Schon gut, schon gut, du kannst ja bleiben. Erst mal zumindest. Aber diese andere Geschichte ist noch nicht entschieden.«
Sie lächelte süß. »Wie du meinst.« Und damit war sie verschwunden.
Aubrey lief unruhig auf und ab. Er fühlte sich wie ein Rennpferd, das im Stall eingeschlossen ist. Dann holte er seinen Mantel und ging hinaus. Es war kalt, und der Stallbursche war schon nach Hause gegangen. Aubrey sattelte sein Pferd selbst, stieg auf und machte sich auf den Weg zu Ethan.
Er brauchte eine Stunde bis zu der kleinen Farm in den Bergen Seattles, aber als er ankam, brannte noch Licht.
Aubrey brachte seinen Hengst in den Stall zu Ethans Pferd und ging dann zum Haus. »Lass mich rein, verdammt!«, brüllte er, nachdem er dreimal geklopft hatte. »Ich erfriere ja hier draußen!«
Die Tür schwang quietschend auf. Das alte Haus war noch nie ein Palast gewesen, aber als Aubrey das letzte Mal hier gewesen war, hatte es entschieden besser ausgesehen. »Geh zurück in dein vornehmes Herrenhaus«, fauchte Ethan und verstellte Aubrey den Weg. »Ich habe dir nichts zu sagen.«
»Nun, aber ich dir«, konterte Aubrey, schob sich an seinem Bruder vorbei und steuerte den Kamin an, in dem ein Feuer brannte. Er erinnerte sich daran, wie sie hier als Kinder Forellen gebraten hatten. Und wie sein Vater mit der Peitsche auf Ethan losgegangen war, bis Aubrey sie ihm aus der Hand gerissen und gedroht hatte, er würde ihn umbringen, wenn er ihn je wiedersähe. Seit diesem Tag hatte er Tom Fairgrieve tatsächlich nie wiedergesehen, und er bedauerte es nicht.
Aus dem Augenwinkel sah er den Gedichtband auf dem Tisch liegen.
»Es tut mir Leid«, entschuldigte er sich. Das war der höchste Preis, den er seinem Bruder je gezahlt hatte.
Ethan kam näher, und seine Augen blitzten. »Wie bitte?«, fragte er. »Ich habe dich nicht verstanden, großer Bruder.«
Aubrey schloss die Augen und hoffte auf Geduld. Die Situation verlangte nach Demut, und er war dazu bereit, doch er besaß auch eine Menge Stolz. Ohne ihn hätte er nie überlebt, wäre nicht zu dem geworden, der er jetzt war, aber im Moment musste er seinen Stolz vergessen. »Ich sagte, es tut mir Leid«, wiederholte er laut. »Julia hat mir erzählt, du hättest ihr das Buch geschenkt, und ich habe ihr geglaubt.«
Ethan wandte ihm den Rücken zu. Seine Schultern strafften sich. »Weißt du was, Aubrey«, sagte er, »angesichts der Frau, die sie war, macht das überhaupt keinen Sinn.«
Aubrey seufzte, zog seinen Mantel aus, holte sich einen Stuhl und setzte sich an den Tisch. »Erzähl!« Er verschränkte die Arme.
»Was denn?« Ethan sah ihn jetzt an, aber sein Gesicht lag im Schatten, sodass Aubrey nur seine Stimme hörte.
»Den Rest der traurigen Geschichte. Julia wollte dich haben, nicht wahr? Tatsächlich hat sie sich dir förmlich an den Hals geworfen, nicht wahr? Oder irre ich mich?«
Ethan fuhr sich mit der Hand durch die Haare und seufzte laut. »Du und dich irren? Das ist doch noch nie vorgekommen«, höhnte er.
»Erzähl es mir«, beharrte Aubrey.
Ethan sagte lange nichts. Er stand hinter seinem Stuhl und umfasste die Lehne, traf aber keinerlei Anstalten, sich hinzusetzen. »Sie ist ein paar Mal hier rausgekommen. Sie war nicht glücklich, Aubrey. Ich glaube nicht, dass das deine Schuld war oder ihre. Sie war krank vor Heimweh, und Seattle war nicht das, was sie sich erhofft hatte.«
»Ich wusste, dass es ihr nicht gefiel«, gab Aubrey ruhig zu. Das hatte sie oft genug deutlich gemacht. »Aber warum hast du mir von ihren
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