Im Bann der Lilie (Complete Edition)
gekleidet und repräsentierten die Geschöpfe der Mythologie ebenso wie historische Figuren. Nachdem der König seine Gäste, welche alle einzeln vom Marshall angekündigt wurden, begrüßt hatte – was allein drei Stunden in Anspruch nahm – eröffnete er den Ball. Das mehrköpfige Orchester spielte zum Tanz auf und der Champagner floss in Strömen. Der Marquis hielt sich lieber etwas abseits von dem Trubel und plauderte mit dem einen oder anderen der Gäste auf der Empore, von wo aus man den darunter liegenden Tanzsaal im Auge behalten konnte. Madame de Montespan – nun wieder rank und schlank – trat zu ihm in einem übertrieben jugendlichen Kostüm eines Blumenmädchens. Ihr künstlicher Leberfleck hatte nun die Form eines Herzens angenommen.
„Ich danke Euch für Eure Unterstützung, Marquis. Meine Konkurrentin hat den Hof verlassen, da der Arzt ihr dringend zu einer Luftveränderung riet. Der König ist mir wieder wohl gesonnen, was vielleicht auch an Eurem kleinen Rezept für einen Liebestrank liegt.“ Sie kicherte leise.
Der Marquis verbeugte sich.
„Ich bin entzückt, Euch so wohlbehalten und fröhlich wieder zu sehen. Meine herzlichsten Glückwünsche zur Geburt Eurer kleinen Tochter.“
Es folgten noch einige belanglose Höflichkeitsfloskeln. Die Geräuschkulisse in den hohen Räumen bestand aus einer Mischung aus Musik, Gesprächsfetzen und dem leisen Klirren von Kristallgläsern. Obwohl ihn immer wieder der ein oder andere Gast in eine Unterhaltung verwickelte, ließ Julien seinen Schützling nicht aus den Augen, der sich unten im Saal prächtig amüsierte. Der Gedanke, Marcel in dieser Nacht bei sich zu haben, ließ wohlige Schauer über seinen Körper rieseln. Er konnte es kaum erwarten, dass das Fest zu Ende ging.
Der junge Chevalier unten im Tanzsaal wurde geradezu umschwärmt, wobei Julien bemerkte, dass die hübschen Dekolletes der schäkernden Damen ihn scheinbar wenig interessierten. Selbst der Sonnenkönig schien an ihm Gefallen zu finden, wandte er sich doch im Vorübergehen dem Jungen zu. Verkleidet als Göttervater Zeus begrüßte er seinen Standeskollegen aus dem Olymp natürlich mit scherzhaften Worten. Es hätte ein unbeschwertes, fröhliches Fest werden können, wäre da nicht Elise Saint-Jacques gewesen. Niemand hatte sie in dem figurbetonten, ägyptischen Kleid und der schwarzen Perücke bislang erkannt, hielt sie sich doch sonst von solchen Gesellschaften eher fern. Auch sie trug eine Augenmaske. Nicht, dass es ihr an Verehrern hier gemangelt hätte, nein, sie war auf der Suche nach einem ganz bestimmten Mann. Immer wieder blickte sie prüfend in die Menge. Den jungen Apoll erkannte sie sofort als ihren Halbbruder. Es kostete Elise Mühe, ihr potentielles Opfer zu umschmeicheln wie eines dieser kichernden Dämchen, die sich hinter ihren Masken und Fächern versteckten. Höfische Spielereien waren ihr fremd. Aber sie schaffte es, den hübschen Jungen auf einen der Balkone zu entführen. Die Luft war kühl, doch die Säle waren dermaßen überheizt, dass die frische Nachtluft den eifrigen Tänzern gut tat. Draußen roch es nach totem Laub. Für einen Moment waren sie allein, und Elise schlang die Arme um den schlanken Göttersohn, der seinerseits die Hände in ihre Taille legte. Sie gab vor, einen leichten Schwips vom Champagner zu haben und schäkerte mit ihm, um ihn abzulenken. Marcel, selbst ein wenig angeheitert, hatte keine Ahnung, wer ihn da umgarnte. Hinter seinem Rücken öffnete die Comtesse das verhängnisvolle Schmuckstück an ihrem Finger, drehte den Ring nach innen und presste den vergifteten Dorn in den Nacken von Marcel Saint-Jacques. Dieser schrie vor Schreck und Schmerz auf, da hatte Elise ihn schon verlassen. Er fasste sich an die Stelle zwischen den Schulterblättern, die er jedoch nicht erreichen konnte. Schon verschwamm die Umgebung vor seinen Augen, und die Beine wollten ihn nicht mehr tragen. Er sank hilflos zu Boden. Für einen unbeteiligten Zuschauer musste es aussehen, als würde er seinen Rausch ausschlafen. Von Ferne dröhnten die Musik und das Gelächter der Gäste in seinen Ohren, wurden zu einem tosenden Rauschen, bis eine gnädige Ohnmacht seinen Geist einhüllte. Marcel bekam nicht mehr mit, wie starke Hände ihn hochhoben. Der Marquis war den beiden gefolgt, wurde jedoch doch die dicht gedrängte Menge aufgehalten, die bereits die Sekunden bis zur Demaskierung zählte. Das mächtige Glockenwerk einer Standuhr im Ballsaal hatte bereits die
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