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Im Bann der Lilie (Complete Edition)

Im Bann der Lilie (Complete Edition)

Titel: Im Bann der Lilie (Complete Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Grayson
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Mitternacht eingeläutet.
    Er beobachtete von Ferne, was die Unbekannte anrichtete, rief noch laut „Marcel, Attention!“, doch sein Ruf ging in dem Wirrwarr aus Stimmen und dem Stakkato der Violinen unter.
    Unsanft drängte Julien die edlen Damen und Herren beiseite, als er sah, wie sein Mündel danieder sank und die Ägypterin sich in Richtung Ausgang schlängelte. Um die Attentäterin konnte er sich jetzt nicht kümmern, doch er wusste, wer unter dieser Maske steckte! Nun war er gezwungen, zu handeln. Viel früher, als er es eigentlich geplant hatte.
     
    Den jungen Mann auf den Armen tragend machte der Marquis einen Satz auf die steinerne Brüstung des Geländers und schwebte sacht wie eine Feder auf den Rasen nieder. Innerhalb eines Glockenschlages befand er sich mit dem Ohnmächtigen in einem der hinter kunstvoll geschnittenen Buchsbaumhecken versteckten Pavillons, in die sich sonst nur die verliebten Pärchen zurückzogen. Hier waren sie unbeobachtet. Hier tat er das, wonach ihm schon so lange gelüstete. Für einen Sekundenbruchteil waren die mörderischen Fangzähne in seinem Mund zu sehen, bevor er sie in die zarte Haut des Halses versenkte. Dabei hielt er den Jungen wie einen kostbaren Schatz in den Armen. Er trank Marcels Blut in großen Zügen und damit auch das Schlangengift in seinem Kreislauf, dessen Wirkung nun ins Leere ging. Bevor der letzte Herzschlag verklang, vollführte er ein ungewöhnliches Ritual. Während des Trinkens leuchtete das Metall des schweren Siegelrings an seiner rechten Hand rot glühend auf. Aus dem flachen Oval in der Mitte erhob sich eine stilisierte Lilie. Dieses glühende Siegel presste er dem jungen Mann in den Nacken, dicht unter dem Haaransatz, wo es unter dem obligatorischem Zopf verborgen lag. Ein kurzes Zischen. Schon roch es nach verbrannter Haut.
    „Unsterblich bist du geboren, und unsterblich sollst du auf Erden wandeln“, murmelte Julien dabei wie ein kurzes Gebet.
    Als er den Ring entfernte, war das Zeichen ganz von selbst erkaltet. Aber er konnte deutlich hören, wie Marcels Herzschlag wieder kräftiger wurde. Dessen Körper passte sich in rasender Geschwindigkeit an sein zukünftiges Dasein in der Schattenwelt an. Nach wenigen Minuten schlug der neugeborene dunkle Engel die Augen auf. Schwarze Augen, die von nun an wesentlich mehr sahen als jeder Mensch. Er starrte den Marquis an, und in seinen Gedanken liefen die letzten Geschehnisse ab wie ein Bühnenstück. Marcel wusste, dass er tot war und dennoch lebte, bewahrt vor der Vergänglichkeit. Aber wie konnte das sein?
    „Wir müssen uns beeilen, mein Junge. Kommt, wir reisen unverzüglich ab. Es ist nicht gut, wenn Ihr in diesem Zustand hier in Versailles weilt. Ich werde Euch unterwegs alles erklären.“
    Er half Marcel auf, legte ihm seinen Umhang um die Schultern und geleitete ihn zur Kutsche. Er befahl seinem Diener, unverzüglich das Gepäck zu holen und die Pferde anspannen zu lassen. Verwundert ob der plötzlichen Abreise tat der Bedienstete, wie ihm geheißen wurde. Normalerweise blieben die Gäste des Königs mehrere Tage im Schloss. Er winkte einem der Lakaien, die in Versailles dienten, und befahl ihm, den König zu unterrichten, dass sein Mündel von einer plötzlichen Unpässlichkeit befallen worden war und unverzüglich heimgebracht werden musste. Inzwischen wurden die Rappen angeschirrt.
    Es folgte eine lange Fahrt, bei der die Pferde nicht geschont wurden. Zwei Tagesreisen dauerte es zurück zum Schloss Montespan, und es wurde nur Rast gemacht, um den Tieren eine Verschnaufpause zu gönnen. Langsam begriff Marcel, was aus ihm geworden war. Er hatte mittlerweile wieder normale Reisekleidung angelegt. Seine Sinne waren unglaublich verstärkt worden. Selbst den rasenden Herzschlag der Pferde konnte er hören und sogar voneinander unterscheiden. Es war nicht leicht, sich an diese Fähigkeiten zu gewöhnen und sie zu beherrschen. Sein Kopf dröhnte. Hin und wieder langte er mit seiner Hand in den Nacken, wo er deutlich das Brandmal von der Größe eines Daumennagels fühlen konnte. Der Marquis zeigte ihm wortlos den Ring, den er am Finger trug.
    „Die Lilie?“, fragte Marcel fassungslos. „Aber das ist doch das Zeichen der Verräter!“
    Julien lachte bitter auf.
    „Unsinn. Das ist eine dumme, menschliche Verzerrung unserer alten Riten, mein junger Freund. Noch bevor Frankreich dieses Symbol als Wappen für sich erwählte – und ich meine lange bevor –, galt die Lilie als Zeichen der

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