Im Bann der Lilie (Complete Edition)
Kutsche eilte derweil weiter. Sein Schweigen war Marcel Antwort genug.
„Warum ausgerechnet ich?“, wollte er dann wissen.
„Ihr ward der Erste, der mein erkaltetes Herz wieder mit Wärme erfüllte. Euer Antlitz und Eure Unschuld waren es, die mich damals im Schankhaus magisch angezogen haben. Vom ersten Augenblick an empfand ich mehr als rein väterliche Gefühle für Euch.“
Das war ein Geständnis, mit dem Marcel nun gar nicht gerechnet hatte.
„Ihr liebt mich“, wiederholte er verblüfft mit wenigen Worten das Gesagte.
Der Marquis nickte. Er spürte deutlich die Verwirrung und den Zwiespalt der Gefühle, die für ein Chaos im Inneren des jungen Mannes sorgten, ebenso wie die wachsende Macht seiner neuen Existenz als Vampir. Aber machte gerade diese Mischung ihn nicht noch begehrenswerter? Offenbar hatte Marcel sich immer noch nicht entschieden, welchen Neigungen seine Natur folgen sollte.
Zurück auf Schloss Montespan geleitete der Marquis seinen Schützling in sein Arbeitszimmer. Der Diener war bereits vorausgeritten. Alles war auf die nächtliche Ankunft der Herrschaft vorbereitet worden. Julien drückte auf eine Platte in der Wandtäfelung hinter dem Kamin und wie von Geisterhand öffnete sich eine verborgene Tür. Der Marquis griff nach einem Kerzenständer. „Kommt!“, forderte er Marcel auf.
Es ging eine kleine steinerne Wendeltreppe hinunter in einen fensterlosen Raum, der mit rotgoldenen Stofftapeten ausgekleidet war, die das Muster der Lilie tausendfach wiederholten. Eine schlichte Anrichte aus lackiertem Holz mit drei Schubladen, die frische Wäsche enthielten, stand darin. Darauf eine Karaffe und ein paar Gläser. Ein Kleiderschrank aus dem gleichen Holz befand sich an der gegenüberliegenden Wand. In der Mitte des Zimmers standen – zwei offene, mit kostbarer Seide ausgekleidete und mit schweren Bronzebeschlägen versehene Särge.
„Zumindest dieser Teil der Überlieferung entspricht der Wahrheit“ , dachte Marcel zynisch.
Ein verschmitztes Lächeln huschte über das Gesicht seines Gönners.
„Ich muss zugeben, darin habt Ihr Recht, allerdings können wir uns auch auf andere Weise vor dem Licht schützen. Wir brauchen nicht unbedingt zu schlafen. Doch ihr solltet dies tun, damit Eure Kräfte in Euch reifen können wie edler Wein. Außerdem müsst Ihr nun für Elise und die Welt tot sein. Erst wenn diese Generation nicht mehr auf Erden weilt, beginnt Ihr ein neues Leben. Nun zieht Euch um.“
Marcel folgte der Aufforderung nur zu gerne nach der langen Reise. Aber seine Gedanken rasten. Auch die Tatsache, dass sie beide sich telepathisch unterhalten konnten, war ihm neu und befremdete ihn. Ganz offensichtlich konnte der Marquis seine Gedanken lesen. Aber er noch nicht die seinen!
„Das kommt noch!“, lachte Julien. „Eure Wandlung ist noch nicht ganz abgeschlossen.“
Er stellte dabei die Kerze auf die Anrichte neben der Karaffe.
„Hegt Ihr eigentlich nicht die Absicht, Euch an Eurer gottlosen Schwester zu rächen?“, fragte er den Jungen dann geradeheraus.
Marcel überlegte, während er in ein bequemes weites Hemd aus weißem Leinen und neue Beinkleider schlüpfte.
„Nein, sie ist durch ihren Hass gestraft genug“, meinte er.
Dann hielt er inne. Ihm war plötzlich eine andere Idee gekommen. Er wandte sich um und blickte dem Marquis fest in die Augen. Zum ersten Mal erkannte er in diesem Antlitz das Wissen von Jahrhunderten. Zu gern hätte er mehr über die Herkunft des Marquis erfahren, aber jetzt war er viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
„Könnt Ihr es so einrichten, dass ich kurz vor dem Ableben der Comtesse erwache und ihr meine Aufwartung machen kann?“
Der Marquis schaute erst verwundert, brach dann in ein lautes Lachen aus.
„Was für eine herrliche Idee! Ihr wollt, dass Elise als alte Frau endet. Sie wird sich Zeit ihres Lebens in der Gewissheit wähnen, Euch beseitigt zu haben, und dann wollt Ihr kurz vor Ihrem Tode in jugendlicher Frische vor der Comtesse erscheinen. Das wird ihr einen Schlag versetzen! Wahrlich, das ist mehr wert als jede physische Rache. Was für ein kluger Bursche Ihr seid, wie geschaffen für ein Leben bei Hofe. Ich werde Euch rechtzeitig wecken, glaubt mir, das werde ich!“
Zugegeben, bei diesem Gedanken konnte Marcel sich des Gefühls der Genugtuung und der Erwartung nicht entziehen. Dagegen der Gedanke, in einen dieser Särge zu steigen, behagte ihm weit weniger.
Julien bemerkte sein Zögern und ergriff seine
Weitere Kostenlose Bücher