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Im Bann der Lilie (Complete Edition)

Im Bann der Lilie (Complete Edition)

Titel: Im Bann der Lilie (Complete Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Grayson
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hatte.
    Während Julien ihm ein Glas einschenkte, betrachtete er Marcel voller Stolz und Sehnsucht. Er reichte ihm das Glas. „Damit Du wieder zu Kräften kommst.“
    Nach dem belebenden Trunk aus der Karaffe, die in diesem Fall keinen Wein enthielt, fühlte sich der junge Mann wie neu geboren. Bis auf den weiterhin bestehenden Durst, den es noch zu löschen galt. Dazu fand sich später in der Bibliothek Gelegenheit, wo der Marquis einen weiteren Vorrat an Lebenselixier für ihn bereithielt. Nachdem Marcel sich in seinem eigenen Zimmer frisch gemacht hatte kam er wieder hinunter, und der Marquis berichtete ihm über die Ereignisse in der Zeit, die er verschlafen hatte. 1671 war Versailles zum Regierungssitz ernannt worden. Es folgten einige belanglose Plaudereien über die neuen Gegebenheiten bei Hofe, dann endlich informierte Julien sein Mündel über den bevorstehenden Tod der Comtesse. Ein seltsames Lächeln glitt über das schöne Gesicht von Marcel.
    „Ich werde Ihr heute Abend meine Aufwartung machen“, sagte er.
    „Ihr wollt doch nicht …“, mutmaßte der Marquis, aber der Junge brach in ein Lachen aus.
    „Nein, nein, das ewige Leben gönne ich meiner Halbschwester nicht. Nur einen kurzen Blick auf mich.“
    Ein erleichtertes Lachen des Marquis folgte.
     
    Der achte August 1697 war der Schicksalstag für Elise Saint-Jacques. An diesem Abend lag sie allein in dem großen Bett. Sie hatte am Tage zuvor schon reichlich Blut gespuckt, und selbst der Arzt aus dem Dorf konnte ihr nicht mehr helfen. Der schickte allerdings die Hausdame mit einer Kutsche los, um einen Priester für die letzte Ölung zu holen. Schuld und Bitterkeit hatten die Comtesse frühzeitig altern lassen. Ihr Geiz, die hohen Räume so wenig wie möglich zu heizen, führten zu dieser schleichenden Krankheit, die mit Husten begann und mit dem Tode endete, denn dieses Gemäuer war feucht geworden und hatte die Lungen der einsamen Frau über Jahre hinweg geschädigt. Elise wusste, dass es zu Ende gehen würde und harrte der Rückkehr ihrer letzten Dienerin. Statt ihrer kam ein anderer Besucher. Als sie kurz aus dem unruhigen Schlaf aufschreckte, erblickte sie den jungen Marcel in ihrem Gemach. Sie versuchte sich aufzusetzen, aber ihre Lungen schmerzten bei jedem Atemzug. Sie fiel zurück in die Kissen.
    „Seid Ihr ein Dämon, gekommen, um mich zu holen?“, fragte sie mit rasselnden Lungen.
    Marcel hatte kein Mitleid mit seiner Halbschwester. Er betrachtete sie völlig ausdruckslos, als er um die Liegestatt herumging. Die Welt der Sterblichen hatte er ja schon vor langer Zeit hinter sich gelassen.
    „Nein, Elise. Ich bin es wirklich und leibhaftig. Euer Halbbruder Marcel.“
    „Aber das ist unmöglich, ich habe Euch doch getötet.“
    Marcel lächelte.
    „Ihr habt es versucht, doch ein gütiges Schicksal hat mich gerettet.“
    „Ihr seid so, so unwahrscheinlich jung“, wunderte sich die Comtesse mit ungläubig geweiteten Augen.
    „Ich werde es auch bleiben“, versprach Marcel.
    Er stand nun ihr gegenüber, die Hände in die hölzernen Schnitzereien der fast brusthohen Bettumrandung gekrallt. Er öffnete den Mund und ließ die Sterbende einen Blick auf die makellos weißen Fänge seiner raubtierhaften Natur werfen. Elise bekreuzigte sich hastig, schlug dann die Hände vor die Augen.
    „Auch wenn Ihr es nicht sehen wollt: Das ist aus mir geworden und daran seid ihr nicht ganz unschuldig.“
    Den Bruder als Kreatur der Hölle zu sehen, war mehr, als das geschwächte Herz vertragen konnte. Es versagte den Dienst. Elise Saint-Jacques starb, ohne das letzte Sakrament empfangen zu haben. „Ich hoffe, Ihr findet gnädige Richter, wo immer Ihr auch seid“, sagte Marcel leise.
    Dann wandte er sich zum Fenster und ließ sich von dort hinter auf den Boden gleiten, um gleich darauf mit der Dunkelheit zu verschmelzen.
    Bei seiner Rückkehr wurde er bereits erwartet. Der Marquis hatte sich in bequemer Kleidung auf dem Sofa vor dem Kamin der Bibliothek nieder gelassen. Der Schein des Feuers spiegelte sich tausendfach in den Facetten der geschliffenen Kristallgläser und der Karaffe auf dem Tisch vor ihm. Ansonsten war das Zimmer unbeleuchtet. Das Knacken der Holzscheite begleitete die Gedankengänge des Marquis. Seitlich von ihm stand das mannshohe Fenster weit offen. Die milde Nachtluft des Spätsommers trug den Atem des blühenden Rosengartens darunter in den Raum. Ein leichter Regen hatte vor wenigen Stunden den Duft der Blüten noch

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