Im Bann der Lilie (Complete Edition)
vor vielen Jahren, genauer gesagt im fünfzehnten Jahrhundert. Der Graf gab mir diesen Ring und erklärte mir dessen Bedeutung. In London trennten sich dann unsere Wege, und ich habe ihn nie wieder gesehen. Er entließ mich mit allen Segnungen unserer Rasse.“
„Und mit dessen Fluch“ , vollendete Marcel den letzten Satz innerlich.
Eine kurze Zeit blieb es still.
„Nun ja, die Adelskreise in Europa sind weit verwinkelt, und so fiel es mir nicht schwer, mich immer wieder als verschollen geglaubtes Mitglied in den Familienstammbaum einzuschleichen und so dieses Schloss zu behalten. Die Ewigkeit ist nicht leicht zu bewältigen hier auf Erden. Bald wird es übrigens für mich Zeit, wieder einige Jahrzehnte zu ruhen.“
Marcel bekam eine Ahnung, was ihm in der Zukunft bevorstand.
„Was habt Ihr nach Eurer Rückkehr gemacht?“, wollte der junge Mann jetzt wissen.
Ein bitteres Lachen war die Antwort. Die Erinnerung trieb den Marquis dazu, sich zu erheben und in der Bibliothek auf und ab zu gehen. Ganz nebenbei schloss er das Fenster und zog die Vorhänge zu. Marcel folgte ihm mit den Augen. Endlich erzählte er weiter.
„Es war die Zeit der Hexenverfolgung. In ganz Europa brannten die Scheiterhaufen. Die Kirche wütete unter den heilkundigen Frauen und verleitete ehrliche Bürger dazu, einander anzuklagen. Keine gute Zeit für die Menschen, mein Junge.“
Julien atmete tief durch.
„Ich begann also mein Werk in den Gefängnissen. Viele der unschuldig Angeklagten flehten um Erlösung von der Folter. Ich folgte nachts ihrem Rufen, und das tue ich noch heute.“
Das also machte der Marquis auf seinen nächtlichen Ausflügen! Er reiste zwar in der Kutsche fort, doch diese fuhr nur außer Sichtweite. In den schützenden Wäldern verließ der Marquis das Gefährt und kehrte erst kurz vor dem Morgengrauen zurück. Gaspard, der treue Kutscher und gehorsame Diener des Marquis, hatte diesen als „Blutspender“ bereits durch Jahrhunderte begleitet, ohne selbst zum Untoten gewandelt zu werden. Seine Lebenszeit lag in den Händen des mächtigen, alten Vampirs. Nun wartete er auf dem Kutschbock auf das Mündel des Marquis, um es wieder zum Schloss Montespan zu bringen.
„Ja, mein lieber Marcel“, nickte der Marquis jetzt, „auch Ihr seid zum Rédempteur, als Erlöser, ausersehen. Von heute an werde ich Euch lehren, wie Ihr diese Aufgabe ehrenvoll erfüllt. Nicht jeder Vampir ist dieses Siegels würdig, nur jene, die ihre Fähigkeiten in den Dienst der Gnade stellen!“ Damit hätte Marcel Saint-Jacques niemals gerechnet. Julien hatte ihn zum Racheengel gemacht! Dabei hatte er als Mensch doch so große Pläne gehabt. Aber all das war jetzt hinfällig geworden. Seine Gedanken schwirrten erneut durch seinen Kopf wie zu Beginn seiner Wandlung.
„Gibt es eigentlich viele von uns?“, fragte Marcel jetzt neugierig.
„Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Wir erkennen einander, lange bevor wir uns sehen, das ist alles, was ich weiß. Viele Dinge habe ich erst selbst erlernen müssen.“
„Was hat es denn mit diesen Spiegelbildern auf sich?“
„Wir selbst können uns durchaus im Spiegel betrachten, wie Ihr wisst. Die Menschen sehen uns eher als geisterhafte Erscheinung. Aber wer achtet bei einer großen Gesellschaft oder auf einem Ball schon auf ein einzelnes Spiegelbild?“
„Aber wenn wir uns so sicher fühlen können, wieso sprecht Ihr dann von einer Ruhezeit?“
Der Marquis blickte ihm tief in die Augen.
„Das ewige Leben kann manchmal recht langweilig werden. Eine Sekunde ist für uns so lang wie ein Tag. Die meiste Zeit über sind wir Zuschauer im Ränkespiel der Menschen. Herrscher kommen und gehen, ebenso wie die Kriege. Es gibt gute und schlechte Zeiten, auch für uns. Jetzt ist eine schlechte Zeit.“
Marcel verstand nur bruchstückhaft, was der Marquis sagen wollte. Da streckte Julien seine Hand aus und legte sie flach an die Wange des Jungen. Dieser sah nun in seinem Kopf die Bilder, die der Marquis ihm zeigte. Bilder von blutigen Schlachten, bei denen die Vampire sich gütlich taten. Sie nahmen den Sterbenden und Verletzten den letzten Schmerz, wenn der Klang der Schwerter und das Donnern der Kanonen verklungen waren.
„Dann warten wir also auf einen Krieg?“, rief Marcel erschrocken aus.
Jetzt erhob auch er sich vom Sofa. Das stand so völlig im Widerspruch zu dem, was Julien ihm zuvor erzählt hatte. Dieser nahm einen tiefen Atemzug.
„Ja, ich weiß, das klingt grausam. Aber die
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