Im Bann der Lilie (Complete Edition)
intensiviert. Eine Nachtigall sang ihre letzte Serenade.
In Gedankenschnelle war der junge Vampir durch die Nacht gereist und nutzte das offene Fenster als Entree. Er machte einen gelösten Eindruck.
„Mir dünkt, dass sich der Schatten Eurer Vergangenheit aufgelöst hat“, bemerkte Julien zufrieden nach einem Blick in Marcels Gesicht.
Der Marquis winkte ihn zu sich. Marcel zog Rock und Weste aus und machte es sich ebenfalls auf dem Sofa bequem. Julien schenkte ihm erneut aus einer der Karaffen ein.
„Trinkt!“, forderte er ihn auf, als er ihm das Glas reichte. „Ein junger Hirsch hat dafür sein Leben gelassen. Das Blut von Wildtieren hat doch mehr Esprit als das unseres Stallviehs“, fügte er erklärend hinzu.
Marcel nahm einen Schluck. Er lehnte sich zurück, legte den Kopf auf die Rückwand des Sofas. Das Glas hielt er in der linken Hand auf dem Sitz. Die rechte Hand lag locker auf der anderen Seite.
„Der Alptraum ist zu Ende“, seufzte er. „Elise ist tot. Sie hat das Anwesen unseres Vaters völlig heruntergewirtschaftet. Es ist eine Schande.“
Der Marquis schien zu überlegen.
„Ihr wisst, dass die Ländereien an den König fallen, wenn Ihr Euer Erbe nicht geltend macht“, mahnte er dann. „Wir könnten Euch als entfernten Vetter vorstellen. Ich würde mich für Euch verbürgen.“
Marcel schloss die Augen. Immer noch ruhte sein Kopf auf der Lehne. Das Kaminfeuer tauchte seine Haut in einen warmen Bronzeton, zeichnete jede Linie und Muskel als Schatten nach. „ Makellos wie eine Statue“, dachte Julien bewundernd.
„Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Dieses Kapitel ist beendet.“
Julien legte seine Hand auf die des Jungen.
„Ich verstehe. Und ich gebe Euch Recht. Besitz ist auf dieser Welt so vergänglich wie die Zeit“, gab er zur Antwort.
Freudig bemerkte er, dass Marcel ihm dessen Hand nicht entzog. Nach einer kleinen Weile schlug der junge Mann die Augen auf, trank sein Glas leer und stellte es auf den Tisch. Er wandte sich zu dem Älteren und setzte sich leger auf die Couch, ein Bein angewinkelt, den rechten Arm auf der Rücklehne und blickte seinem Erschaffer in die tiefblauen Augen.
„Erzählt mir von Eurer Wandlung“, bat er ihn. „Ich will mehr über unser Dasein erfahren!“
Julien hob verwundert die Augenbrauen und lächelte. Er war eine attraktive Erscheinung, die die künstlichen Modetrends der Zeit nicht nötig hatte. Und wenn er lächelte wie jetzt, wirkte der Marquis sogar fast jugendlich.
„Gut, so sei es. Ich will Euch einige unserer Geheimnisse enthüllen“, kündigte er an.
Er schenkte sich noch einmal ein und begann seinen Bericht:
„Es geschah auf einer meiner zahllosen Reisen. Ich besuchte das alte Griechenland ebenso wie die anderen Mittelmeerländer, müsst Ihr wissen. Im Morgenland lehrte man mich, die Kunst der Sterndeutung. Jahrelang war ich von zuhause fort. Meine Eltern mussten mich oft tot geglaubt haben, aber ich schrieb ihnen, so oft ich konnte. Bis ich eines Tages zurückkehrte und meine Eltern nicht mehr da waren.“
Das hörte sich nach einer traurigen Geschichte an, fand Marcel. Es erinnerte ihn ein wenig an seine eigene.
„Mein älterer Bruder verwaltete die Ländereien, aber es zog ihn mehr an den Hof nach Paris. Ich versprach ihm, mich um das Schloss zu kümmern, wenn er mich noch eine letzte Reise machen ließe. Er stimmte zu. Ich besuchte also Konstantinopel und die östlichen Länder, danach wollte ich über England heimkehren. Auf der Überfahrt von Constantza nach London gab es nur einen einzigen Passagier außer mir an Bord, einen rumänischen Grafen. Dieser ließ sich aber nur in der Dämmerung an Deck blicken und blieb ansonsten in seiner Kabine. Bald bemerkte ich, dass ein Mitglied der Crew nach dem anderen erkrankte. Wie von einem seltsamen Fieber ergriffen lagen sie in den Kojen und fantasierten. Der Schiffsarzt konnte ihnen nicht helfen. Bald gab es die ersten Todesfälle. Die einfachen Matrosen munkelten von einem Fluch. Ich selbst war mir bald nicht mehr sicher, ob wir England gesund an Leib und Seele erreichen würden, denn auch mich hatte dieses Fieber ergriffen. Alpträume quälten mich, und ich spürte, wie das Leben jede Nacht mehr aus mir heraus rann. Dann, eines Nachts, bemerkte ich den Rumänen an meiner Koje. Er fragte mich, ob ich leben wolle. Ich konnte nur noch mit dem Kopf nicken. Den Rest kennst du ja. Er gab Segen und Verdammnis durch das Siegel der Lilie an mich weiter. All das geschah
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