Im Bann der Lilie (Complete Edition)
Lehmmauer des Hauses hinter ihr. So konnte sie nicht einmal nach dem Dolch greifen!
„So leicht kommst du uns nicht davon“, hauchte er seinen stinkenden Atem in ihr Gesicht.
Graziella schloss angeekelt die Augen. Ihr wurde übel. Der andere Mann kicherte und nahm noch einen tiefen Schluck aus der Flasche, woraufhin er rückwärts zu torkeln begann, bis ihn ein abgestellter Handkarren am Straßenrand stoppte, in den er hineinfiel und wie eine Fliege mit den Beinen in der Luft zappelte. Graziella hätte laut los gelacht, hätte der andere Kerl sie nicht so bedrängt und begonnen, sie unverschämt zu begrapschen. Sie versuchte, nach ihm zu treten und sich zu befreien, doch über ihren Widerstand lachte der widerliche Typ nur. Ihre Körperkraft reichte bei weitem nicht aus, um den aufdringlichen Mann abzuwehren, der jetzt seine Pranke auf ihren Mund legte, um sie am Schreien zu hindern. Sein Körpergewicht presste sie immer noch an die Wand hinter ihr. Was er vorhatte, war ganz offensichtlich, und Graziella geriet in Panik. Ihr Herz raste vor Angst, und ihr Blut rauschte in den Ohren. Wenn sie doch nur irgendwie ihre Waffe erreichen könnte! Das rasende Pochen ihres Herzens lockte wie heftige Morsezeichen in der Dunkelheit etwas – oder besser gesagt – jemanden an, der ihr Leben entscheidend verändern würde.
Als der Widerling begann, ihren Rock langsam hochzuschieben, hörte die Zigeunerin plötzlich ein Rauschen in der Luft, wie von mächtigen Schwingen. Der Kerl wurde von ihr weggerissen, flog wie ein Spielball durch die Luft und landete auf der gegenüber liegenden Straßenseite, wo er gegen ein Holztor krachte und ohnmächtig liegen blieb. Der andere Kerl saß immer noch lallend in dem Handkarren und summte selbstvergessen vor sich hin. Graziella hatte vor Schreck ihre Augen geschlossen und öffnete sie nun zaghaft wieder. Vor ihr stand ein hoch gewachsener Mann in dunklem Umhang und ebensolchem Hut. Die Haare streng zurückgekämmt und zu einem Zopf gebunden. Lüsterne blaue Augen unter dunklen, leicht überheblich wirkenden Brauen, musterten sie prüfend wie einen Gaul, der zum Verkauf stand. Sein schmales, bartloses Gesicht hatte einen seltsam durchscheinenden Glanz in dem wenigen Licht, das durch die Butzenscheiben der angrenzenden Wirtschaft auf die Straße fiel.
Julien de Montespan kannte diese Frau aus den Gedankenbildern seines Protegés, doch er wollte sichergehen.
„Wie ist Euer Name?“, fragte er in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.
„Graziella, Herr. Ich bin Tänzerin im Wanderzirkus“, gab die junge Frau bereitwillig Auskunft. „Und was sucht Ihr zu so später Stunde in dieser Gegend?“
Natürlich kannte er die Antwort bereits. Dieses Weib war ein offenes Buch für den erfahrenen Vampir.
Graziella blickte verlegen zu Boden.
„Eine verlorene Liebe, Herr“, gab sie ehrlichen Herzens Auskunft. Sie konnte nicht sehen, wie ein verächtliches und gleichzeitig zufriedenes Lächeln um die Mundwinkel des Marquis huschte und gleich wieder verschwand.
„Gebt diese Suche auf und kehrt zu Euren Leuten zurück. Marcel hat nie zu Euch gehört und wird auch niemals zu Euch zurückkehren“, sagte Julien mit der gleichen gebieterischen Stimme.
Graziella blickte verwundert zu ihm hoch. Woher wusste dieser gebildete Kavalier den Namen ihres Liebsten? Kannte er ihn etwa? Hoffnung keimte in ihr auf, die der Marquis jedoch zunichte machte, indem er ihr seine Hand mit dem Lilienring zeigte. Er war einer von denen!
Jetzt war ihr auch klar, woher die übermenschliche Kraft gekommen war, die ihren Angreifer weggeschleudert hatte. In dem gleichen Augenblick, wo der schönen Zigeunerin dies bewusst wurde, strich der Marquis sanft mit den Fingerspitzen mit seiner ringbesetzten Hand ihren Kopf hinunter, über ihre Augen, ihren Mund und schenkte ihr Vergessen. Mit diesem Vergessen erlosch gleichzeitig die Liebe zu Marcel in ihrem Herzen. Dafür glühte die im Herzen des Marquis noch einmal so stark auf, bis eine helle Flamme in ihm loderte. Ältere Vampire konnten Menschen nicht nur das Blut, sondern auch die Emotionen stehlen und sich von ihnen nähren! Ein weiteres Geheimnis, das dem jungen Marcel noch verborgen geblieben war. Es dauerte nicht einmal eine Minute, bis das Herz der Tänzerin gänzlich leer und erschöpft war. Julien de Montespan dagegen schloss die Augen, atmete tief und genoss die unbändige Zuneigung, die ihn in einen Rauschzustand bittersüßer Folter versetzte und
Weitere Kostenlose Bücher