Im Bann der Lilie (Complete Edition)
köstlicher war als jede Blutmahlzeit. Er brannte darauf, sie an Marcel weiterzugeben!
Graziella hob ihr Tuch vom Boden auf, schlang es über ihren Kopf und ihre Schultern und eilte mit großen Schritten zurück zum Lagerplatz des Zirkus, wo man bereits mit dem Aufbruch begonnen und die Ponys eingeschirrt hatte. Julien blickte ihr kurz nach, warf einen verächtlichen Blick auf den immer noch Betrunkenen, der in dem Karren nur noch ein lautes Schnarchen von sich gab, und verließ diese Gegend, um Pläne für eine gemeinsame Zukunft mit Marcel zu schmieden, nachdem nun auch das letzte Hindernis beseitigt war.
Als Julien in das kleine Bürgerhaus zurückkehrte, brannte ein helles Feuer im Kamin aber Marcels Anwesenheit konnte er nicht erfassen. Wütend und enttäuscht warf er seinen Umhang auf das Sofa. Er würde wohl auf die Jagd gegangen sein. Sollte er den Jungen suchen? Nein, spätestens vor dem Morgen würde er schon wieder auftauchen. Aber dann blieb ihnen nur so wenig Zeit vor der Tagesruhe, und wie gerne hätte er Stunde um Stunde an der Seite des schönen Jünglings verbracht! Schmerzhaft wurde ihm bewusst, wie sehr er dem jungen Chevalier verfallen war. Er biss sich auf die Lippen, als wolle er diesen Schmerz unterdrücken. Stattdessen spürte er sein eigenes Blut. Er hasste sich fast dafür, dass er diesen Jungen so innig liebte. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als auf seine Rückkehr zu warten und diesen Schmerz zu ertragen.
Marcel Saint-Jacques stand zu diesem Zeitpunkt regungslos im Schatten eines Hauses und beobachtete aus der Ferne, wie sich die kleinen bunten Wagen hintereinander aufreihten wie eine Glasperlenschnur und in Richtung der Stadttore fuhren. Für einen Sekundenbruchteil dachte er daran, einfach wieder dazu zu stoßen und mit den vertrauten Gesichtern weiter zu ziehen. Aber etwas in ihm sagte ihm, dass diese Zeit vorüber war. Er hatte zugesehen, wie Graziella aus einer Straße herbei geeilt kam und in letzter Minute auf den bereitstehenden Wagen sprang, auf dessen Kutschbock ihr Bruder die Zügel hielt. Dieser blickte sie nur kurz an, sagte aber nichts. Er knallte mit der Peitsche, und die beiden Schimmel zogen an, um sich als letztes Gefährt dem reisenden Zirkus anzuschließen. Seine mentalen Fühler, die er in Graziellas Gedanken ausstreckte, konnten nichts entdecken, was auch nur im Geringsten nach einer Erinnerung an ihn aussah. Sie hatte sich schlichtweg verspätet! Enttäuscht wandte er sich ab. So war das eben mit den Menschen. Sie vergessen schnell, zu schnell. Aber sie waren ja auch nicht für die Ewigkeit geschaffen. Marcel ging die schlecht beleuchteten Straßen entlang. Eine Dirne stellte sich ihm plötzlich in den Weg und wollte ihn mit ihren Reizen locken. Sie kam ihm gerade recht! Zeit für eine Zwischenmahlzeit. Sie hatte keine Chance zu einer Gegenwehr. Noch immer enttäuscht und zornig nahm er sich mehr, als sie ihm anbot. Zum ersten Mal hielt er sich nicht mehr in der Gewalt und entließ sein Opfer erst kurz vor dessen letztem Atemzug aus seinen Fängen. Der leblose Körper fiel zu Boden. Was für eine sinnlose Rache hatte er da an einer Unschuldigen geübt! Hatte sich vorgestellt, wie er Graziellas Blut in wilden Zügen trankt. Und nun lag diese fremde Frau tot vor ihm auf dem nassen Pflaster mit einem immer noch erstaunten Ausdruck auf dem Gesicht. Er empfand nicht einmal Reue, nur so etwas wie – Macht. Doch dieses kurze triumphale Gefühl verlor sich angesichts der realen Notwendigkeit, die Leiche entsorgen zu müssen. Nachdem er innerlich wieder etwas zur Ruhe gekommen war, blickte er sich um. Die Nacht war bitterkalt. Weit und breit war niemand zu sehen. Zum Glück befand sich die Seine ganz in der Nähe. Der Fluss würde seine Spuren verwischen.
Julien freute sich, dass Marcel doch wesentlich früher heim kam, als erwartet, aber irgendetwas war geschehen. Er konnte es in seinen Augen sehen. Die Vorfreude, seinen Schützling endlich in die Arme schließen zu können, wurde getrübt durch den kühlen Blick aus schwarzen Augen. Der Marquis versuchte, unbemerkt in Marcels Gedanken einzudringen, doch zum ersten Mal blockte dieser ihn mental ab. Aber das Bild des abreisenden Wanderzirkusses hatte er noch empfangen. „Trauert Ihr etwa dieser Zigeunerin hinterher?“, fragte er mit hochgezogenen Brauen.
Ein „Hm“ war die einzige Antwort. Marcel hatte sich vor dem Kamin niedergelassen und starrte ins Feuer.
Julien machte eine verächtliche
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