Im Bann der Lilie (Complete Edition)
Türe hinter ihr ab, denn dieses Mädchen schien zu keiner Bewegung mehr fähig.
„Sie macht es mir viel zu leicht“, knurrte Julien innerlich.
Er war unzufrieden. Wie er diese einfältigen Menschen doch insgeheim verachtete! Die Sehnsucht nach den eigenwilligen Disputen mit Marcel kam urplötzlich in ihm hoch, und er sah diese wunderschönen schwarzen Augen unter den langen Wimpern vor seinem geistigen Auge. Dann kam der Zorn, diese unbändige Wut, ihn verloren zu haben. Dieses Gefühl richtete sich teilweise gegen ihn selbst, teilweise gegen seinen Schützling. Es machte ihn rasend, nicht Marcel in die Arme reißen zu können, anstatt dieses willigen Weibchens! Julien handelte fast automatisch. Chantal spürte seine schlanken Hände um das Mieder an ihrer Taille gleiten, freute sich bereits auf ein zärtliches Vorspiel. Doch das Gegenteil war der Fall: Noch bevor die junge Frau den Mund zu einem Schrei öffnen konnte, riss der Marquis mit einem Ruck sein Opfer zu sich heran und bohrte seine überlangen Eckzähne in ihren Hals. Das verursachte jedes Mal ein so hässliches Geräusch! Er trank sie leer, wie einer dieser ungehobelten Wirtsgäste da unten sein Bier austrank, ohne das geringste Interesse an ihrer Person. Mit jedem Schluck waren seine Gedanken bei dem Gefährten, den er so sehr vermisste und mit dem er diese Mahlzeit gerne geteilt hätte. Chantals leblose Hülle ließ er fallen, die Seine würde später ihr nasses Grab werden. Die Vampire von Paris konnten Gott danken, dass er ihnen diesen schönen Fluss geschenkt hatte!
Ohne der Toten weitere Beachtung zu schenken, schlug Julien beide Hände vor sein Gesicht. Am liebsten hätte er den Namen des Geliebten hinausgeschrien. Er wünschte sich, dass seinesgleichen zu Tränen fähig wären. Jetzt, in diesem unseligen Augenblick des Verlustschmerzes, den sein mit warmem Blut erfrischt pulsierender Körper nur noch verstärkte.
Als der Marquis am nächsten Abend nach Einbruch der Dämmerung die Treppe hinunter in die Schankstube ging, hörte er den Wirt bereits lauthals fluchen, dass seine Dienstmagd heute nicht zum Dienst erschien war und er mit seiner Frau allein die ganze Arbeit zu bewältigen hatte. Diese hielt sich jedoch in Grenzen, denn zu so früher Stunde herrschte hier noch nicht viel Betriebsamkeit.
Der Marquis schritt an dem streitenden Ehepaar vorbei und bemerkte einen einzigen Gast, der aufrecht auf einer der Holzbänke saß, ohne einen Becher vor sich zu haben. Es war der Adjutant des Korsen. Er schien auf ihn gewartet zu haben. Jetzt erhob er sich.
„Général Bonaparte möchte dich sprechen, Bürger Julien!“, forderte er und ging steif wie ein Zinnsoldat vor dem Marquis her zur Türe in der Erwartung, dass dieser ihm folgen würde, was auch geschah. Im Gegensatz zu dem stickigen Dunst in der Gaststube war die Luft draußen fast frisch zu nennen, sah man von den üblichen Gerüchen der Rinnsale ab, die eine mehr als provisorische Abwasserbeseitigung darstellten.
Der Uniformierte schritt vor dem Marquis her zu einem der Häuser, die besser gestellte Bürger bewohnten. Dort hatten sich der Brigadegeneral Bonaparte und sein engster Stab einquartiert. Julien wurde in einen der Salons für Besucher geleitet, bis man ihn schließlich wieder abholte, um ihn in das Arbeitszimmer des Heerführers zu geleiteten. In dessen Mitte stand ein großer Tisch mit einigen Landkarten von Europa. Die ausgerollten Karten wurden an den Enden von dekorativen Briefbeschwerern in eine flache Form gezwungen. Vor dem Fenster befand sich ein schlichter, aber eleganter Schreibtisch, vor dem gerade der kleine Korse in seiner Uniform stand, unhöflicherweise mit dem Rücken zu seinem eintretenden Gast.
Normalerweise hätte der Marquis de Montespan ein solch ignorantes Verhalten übel genommen, aber in diesem Fall übersah er es, abgelenkt durch einen ganz unerwarteten Anblick: An der Wand rechts nebem dem Schreibtisch und dem Fenster hing das Bild von Marcel Saint-Jacques. Gebannt starrte er in diese Augen, die er so liebte und die ihn nun unverwandt anblickten. Erst als Bonaparte zweimal hüstelte und ihn aufforderte, sich zu setzen, bemerkte Julien seine Befangenheit. Es fiel ihm schwer, den Blick von diesem Bild wieder loszureißen und sich auf den Hausherrn zu konzentrieren.
„Ein faszinierender junger Mann, nicht wahr?“, lächelte Napoléon mit einem leicht spöttischen Unterton der Stimme.
Julien selbst konnte nur nickten.
Bonaparte beobachtete ihn
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