Im Bann der Lilie (Complete Edition)
Zeit später gestürmt wurde. Die Verfolgten begingen derweil Selbstmord. Nur Robespierre überlebte, mit einem Schuss in den Unterkiefer, den er sich selbst zugefügt hatte. Er wurde zum Spott des Volkes halbtot aufgebahrt und sollte nunmehr ebenfalls der Guillotine zum Fraß vorgeworfen werden. Bis zuletzt sah er sich selbst immer noch als Märtyrer und tatsächlich – der Gedanke der Revolution überlebte auch ohne ihn.
Während der ganzen Zeit folgte Julien den Spuren von Napoléons Truppen, die damals seine Kutsche aufgebracht hatten. Napoléon selbst war nach dem Sturz Robespierres interniert und aus der Armee entlassen worden.
Die Kutsche sowie zwei seiner vier Pferde fand der Marquis nach langer Suche schließlich in einer Poststation zweihundert Kilometer von Paris entfernt. Das Gefährt war mittlerweile neu lackiert worden und hatte seine besten Tage sichtlich hinter sich. Unbemerkt durchsuchte er es eines Nachts in der Remise, doch das Versteck war leer. Das kostbare Bildnis war verschwunden! Enttäuschung machte sich in ihm breit und fieberhaft überlegte er, wo ein Heerführer Kriegsbeute wohl aufbewahren würde. Oder hatte er es gar einem seiner Offiziere als Geschenk vermacht? Schlimmer noch, wenn nun ein einfacher Soldat es gefunden und zu Geld gemacht hatte? Verzweiflung machte sich in ihm breit. Hatte er nach Marcel selbst nun auch noch das letzte Kleinod der Erinnerung verloren? Um das herauszufinden, musste er dem Weg Napoléons folgen, der seine kriegerische Laufbahn bald wieder aufnehmen sollte.
Im Jahre 1795 führte Juliens Weg wieder zurück nach Paris, wo der Brigadegeneral Napoléon Bonaparte im Auftrag des Präsidenten des Nationalkonvents, Paul de Barras, gerade einen Aufstand der Royalisten in Paris niedergeschlagen hatte.
Und hier kam der Zufall dem Marquis zu Hilfe. Julien stieg der metallisch-süße Geruch schon von Weitem in die Nase, noch bevor er bei Einbruch der Dämmerung das Stadttor passierte. Den Kragen seines Umhanges hatte er hochgezogen und den Hut tief im Gesicht, so dass nur seine kristallblauen Augen jedes Detail seiner Umgebung wahrnahmen. Während die Hufe seines Pferdes durch ihren Takt auf dem Kopfsteinpflaster sein Kommen ankündigten, spürte der Marquis, dass diese Stadt wie gelähmt war. Die Menschen hatten sich in den Häusern verkrochen, und die Wenigen, die tuschelnd an den Straßenecken standen, huschten bei seinem Näherkommen davon wie schreckhafte Tiere. Eine Wolke aus Angst, Trauer und Empörung lag über Paris.
Der Marquis lenkte sein Ross auf den Platz, auf dem auch heute hunderte von Menschen ihr Leben gelassen hatten. Kleine, rote Rinnsale hatten sich zwischen den Pflastersteinen gebildet, die im Schein der Pechfackeln feucht glänzten. Soldaten hoben die toten Körper auf Pferdekarren, stapelten sie mitleidlos übereinander und ließen sie abtransportieren. Das Rumpeln der Holzräder verhallte wie eine Todesmelodie in den leeren Straßen. Inmitten dieser Aufräumarbeiten stand ein kleiner Mann, dessen Uniform ihn als Befehlshaber auszeichnete. Hocherhobenen Hauptes überblickte er die Schreckensszenerie mit kaltem Blick und rührte sich nicht von der Stelle. Für einen Moment trafen sich ihren Augen. Der Marquis wusste auf Anhieb, dass er nun seinem Ziel näher kommen würde. Wusste dieser Mann etwas über den Verbleib des Bildes? Langsam ritt Julien näher. Seine Augen hatten beim Anblick des vielen Blutes einen eigentümlichen, verräterischen Glanz angenommen, doch es gelang ihm, sich zu beherrschen. Er durfte jetzt keinen Fehler machen!
Zwei Soldaten traten vor und wollten ihm den Weg zu ihrem Anführer versperren, doch Napoléon hob nur gebieterisch die Hand und sie wichen wieder zurück.
Julien stieg vom Pferd, zog den Hut ab und grüßte den Soldatenführer mit der nötigen Ehrerbietung. Als er ihm dann seinen vollen adeligen Namen nannte, hob Bonaparte kurz die Augenbrauen, erwiderte jedoch nichts. Der Marquis wartete klugerweise, bis Napoléon das Wort an ihn richtete. Dessen Stimme klang ein wenig hoch, trug jedoch die gleiche Kälte in sich wie seine Augen.
„Ihr seid sehr mutig, Marquis, an diesem Tage ausgerechnet nach Paris zu kommen. Oder gehört Ihr etwa zu diesen fanatischen Royalisten?“
Da war etwas Lauerndes in seinem Blick, doch Julien ging darüber hinweg. Der Anflug eines Lächelns huschte über seine Lippen.
„Keineswegs, mon général. Ich bin gekommen, um Euch meine Hilfe in der Heilkunde anzubieten. Ich
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