Im Bann der Lilie (Complete Edition)
aufmerksam. Seine kleinen Augen schienen wie die einer Ratte ständig auf der Suche zu sein. Er ahnte, dass dieser Mann in einer geheimnisvollen Verbindung zu diesem Bild stand. Sein Blick entsprach nicht dem eines Kunstkenners. Darin lag mehr als die Bewunderung für die Malerei an sich. Darin lagen tiefere Gefühle.
„Wisst Ihr, wer das ist?“, fragte Bonaparte jetzt. Er hatte nicht auf das respektlose „du“ gewechselt, wie es seit der Revolutionszeit üblich war, um die Standesunterschiede noch deutlicher aufzuheben.
Julien konnte einen leisen Seufzer nicht unterdrücken. Wie unter einem Zwang nickte er.
„Ja, dieser Junge ist mein Mündel“, gab er zu.
Erstaunt hob Bonaparte die Augenbrauen, erwiderte jedoch nichts. Er schien zu überlegen. Wie jeder gute Stratege überlegte er seinen nächsten Schachzug in seinem Schlachtplan. Gute Feldscher waren knapp in den Zeiten der Kriegswirren, von denen Europa heimgesucht war.
„Ich mache Euch ein Angebot“, begann er, mit fester Stimme wieder die Aufmerksamkeit des Marquis auf sich zu ziehen. „Ihr verpflichtet Euch, mich für die nächsten drei Jahre als mein Leibarzt zu begleiten, und ich schenke Euch dieses Bild, an dem Euer Herz zu hängen scheint.“ Bei diesen Worten füllte der Befehlshaber zwei Gläser mit edlem Portwein aus einer ebenso edlen Karaffe. Eines davon reichte er nun dem Marquis de Montespan. Dieser nahm es ohne zu zögern an. Was waren schon drei Jahre im Leben eines Unsterblichen? Gut, er hätte natürlich dieses Bildnis stehlen können, nun, da er wusste, wo es sich befand. Aber irgendetwas hielt ihn davon ab. Julien de Montespan spürte deutlich, dass dieser kleine, untersetzte Mann vor ihm einen unbeugsamen Willen besaß und zu großen Dingen fähig war. Dieser Mann konnte die bekannte Welt verändern! Vielleicht konnte er ihm sogar helfen, den echten Marcel wieder zu finden? Bonaparte hob sein Glas zu einem Trinkspruch: „Wo immer der Wind uns hin weht!“
Marcel Saint-Jacques klopfte sich den Staub aus den Kleidern. In seinen trockenen Eingeweiden gärte der Hunger nach Leben. Er brauchte frisches Blut! Als er sein Mausoleum verließ, schien sich in seiner Umgebung kaum etwas verändert zu haben, außer, dass dieser Friedhof noch mehr von der Natur zugewuchert worden war und nun eher einem Park glich als einer ehrwürdigen Begräbnisstätte. Ein paar Nachtfalter umschwirrten die süßen Blüten des Jasmin. Eine Eule strich mit elegantem Flügelschlag über ihn hinweg, ohne ein Geräusch zu verursachen. Die Geschöpfe der Nacht waren aktiv und eines davon war er selbst. Der junge Vampir nahm einen tiefen Atemzug. Seine Lungen sogen die noch kühle, sternklare Nacht ein und erfüllten ihn mit jener Sehnsucht nach Wärme, die nur etwas Lebendiges ihm schenken konnte.
Europa befand sich immer noch – oder schon wieder – im Krieg. Das bemerkte Marcel schnell, als er bewaffnete Soldaten durch das nächtliche Paris patrouillieren sah. Es musste tagsüber geregnet haben, denn das Pflaster glänzte noch feucht und spiegelte den Schimmer vereinzelter Lichter aus den Fenstern der Häuser wider. Ein Nachtwächter zog mit seiner Hellebarde einsam seine Runden. Marcel hielt sich abseits der großen Straßen und streifte ziellos durch schmale Gassen. Sein Hunger war so groß, dass diesmal ein streunender Hund nicht ausreichen würde. Also verschonte er die armen, struppigen Tiere, die er unterwegs traf und die mit eingezogenem Schwanz vor ihm davon liefen. Er machte lieber Jagd auf wertvollere Beute! Der Zufall kam ihm bei seiner Suche zu Hilfe: Er konnte beobachten, wie aus einem der ehemaligen Stadthäuser des Adels eine Dienstmagd aus einer Seitenpforte schlüpfte und davon eilte. Sie hielt eine Depesche schützend unter ihrem dunkelbraunen Umhang aus grobem Stoff verborgen und schaute sich hin und wieder ängstlich um. Marcel war dies mit seinem scharfen Blick nicht entgangen. Er folgte ihr unauffällig über den gedrungenen Dächern der Stadt, lautlos wie ein Raubvogel, sie niemals aus den Augen lassend. In einem Torbogen, der nur von einer einzigen, müden Laterne beleuchtet war, hielt sie inne und schien auf jemanden zu warten. Marcel konnte nicht länger an sich halten. Ihr vor Angst klopfendes Herz rief ihn herbei wie die Hundepfeife einen Jagdhund. In einem Flug vom nächstgelegenen Dach landete er hinter ihr. Sie fuhr erschrocken herum und wäre fast ohnmächtig nieder gesunken.
„Seid Ihr der Mann, der für meine
Weitere Kostenlose Bücher