Im Bann der Lilie (Complete Edition)
bin sicher, dass ich Eure Soldaten von so manchen Schmerzen erlösen kann.“
Dieser zynische Unterton entging auch Napoléon nicht. Dieser große, schlanke Mann, der da so furchtlos vor ihm hingetreten war, gab ihm Rätsel auf. Er besaß die Anziehungskraft eines kostbaren Kunstwerkes und die gleiche Seelenlosigkeit. Vielleicht sollte er diesen Marquis besser im Auge behalten!
„Nun, seid mir willkommen, auch wenn für diese armseligen Kreaturen Eure Hilfe zu spät kommt“, sagte der Korse und wies dabei mit der Hand auf die abzutransportierenden Leichen der Zivilisten. „Ein guter Feldscher wird in jeder Compagnie gebraucht. Mein Adjutant wird Euch ein adäquates Wirtshaus anweisen. Allerdings könnt Ihr davon ausgehen, dass wir bald größeren Herausforderungen gegenüber stehen werden.“
Mit diesem letzten Satz ließ der Heerführer den Marquis einfach stehen und ging mit hinter dem Rücken verschränkten Händen davon. Ein Soldat mit dem Rang eines Leutnants nahm sich nun seiner an und führte den Adeligen in ein nahe gelegenes Gasthaus, in dem eine merkwürdige Stille herrschte. Die wenigen Gäste saßen stumm vor ihrem Essen oder ihrem Glas Wein. Wieder war es der Geruch von Angst, der dem alten Vampir entgegenschlug. Aus der Küche drang der penetrante Geruch eines Eintopfes, der wohl schon länger als einen Tag im Kessel garte. Julien verzog leicht das Gesicht. Seiner stolzen Gestalt und den anmutigen Bewegungen konnte man den Adeligen von Weitem ansehen. Eines der Schankmädchen warf ihm einen viel sagenden Blick zu, als sie den eleganten Herrn eintreten sah. Da eilte der untersetzte Wirt schon mit übertriebener Dienstbeflissenheit auf ihn zu. Seine schütteren Haare glänzten – allerdings nicht von Pomade – und klebten an der verschwitzen Halbglatze. Der Marquis beeilte sich, sein Spitzentaschentuch aus dem Ärmel zu ziehen und vor die Nase zu halten. Es war nicht festzustellen, ob der Geruch dieses Menschen von seiner schmutzigen Schürze oder seiner offensichtlichen Scheu vor Wasser stammte. Julien fragte nach einem Zimmer. Es kostete ihn Mühe, ein Husten zu unterdrücken. Der Wirt wies ihm im oberen Stockwerke eines seiner angeblich besten Zimmer zu und winkte die Magd herbei, um den Marquis zu begleiten. Die junge Dame in dem leicht zerschlissenen Kleid packte diese Gelegenheit gerne beim Schopf.
Oben angekommen erkannte der Marquis sofort, dass dieses Zimmer bereits bessere Tage gesehen hatte, aber es war zumindest sauber. Das Mädchen goss frisches Wasser in die Waschschüssel und knickste artig beim Hinausgehen, allerdings nicht, ohne ihm erneut ein verlockendes und gleichzeitig fragendes Lächeln zu schenken. Sollte er das Angebot annehmen und dieses dumme Ding heute Nacht in sein Zimmer einladen, um eine frische Mahlzeit einzunehmen? Julien überlegte für einen Sekundenbruchteil. Die Bestie ihn ihm konnte kaum widerstehen. Zu lange hatte er seine eigenen Bedürfnisse zurückgestellt. Er griff in seine Tasche und warf ihr ein Geldstück zu.
„Wie ist dein Name, Kind?“, fragte er, obwohl ihn dieser keineswegs interessierte.
„Chantal“, gab das Dienstmädchen zu Antwort, erfreut, dass sie die Aufmerksamkeit dieses interessanten Gastes erregen konnte und natürlich in Vorfreute auf eine angemessene Belohnung. „Komm heute Nacht wieder“, wies Julien sie an.
Das Lächeln auf dem Gesicht des Mädchens verstärkte sich, und sie eilte geflissentlich aus dem Zimmer. Sie hatte eine Verabredung mit dem Tod getroffen, ohne es zu wissen!
Es war bereits kurz nach Mitternacht, als es zaghaft an der Tür des Marquis de Montespan klopfte. Dieser war gar nicht erst zu Bett gegangen. Er hatte sich seiner staubigen Reitkleidung entledigt und trug nun nur ein weites, weißes Hemd mit Spitzenmanschetten, dessen Schnürung offen stand und eine glatte, haarlose Brust offenbarte. Das Kerzenlicht überzog die Haut des Vampirs wie mit Perlenglanz. Das silbern glänzende Haar mit den dunklen Seitensträhnen hing offen bis auf die Schultern herunter. Seine Augen leuchteten mit der Intensität blauen Eiskristalls im Halbdunkeln. Der Anblick eines verführerischen Dämons erwartete das unbedarfte Bauernmädchen.
„Herein!“
Juliens Stimme klang befehlsbetont wie zu den Zeiten der früheren Adelsherrschaft. Chantal stockte der Atem bei ihrem Eintritt. Es war ihr nicht mehr möglich, ihren Blick von der hochgewachsenen, athletischen Gestalt abzuwenden. Julien schritt auf sie zu und schloss die
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