Im Bann der Lilie (Complete Edition)
Dann verließen die beiden Frauen den Salon und ließen Marcel allein, damit dieser sich umkleiden konnte. Als sie eine Stunde später zurückkehrten, um nach ihm zu sehen, war er längst verschwunden. Nur eines der großen Flügelfenster stand weit offen.
Als Lisette dieses Fenster schloss, stand Marcel bereits vor der Tür in der Rue Villard No. 13 und betätigte den bronzenen Türklopfer. Ein junges Mädchen in der Livree einer Zofe öffnete ihm mit einer brennenden Kerze in der Hand und starrte den Unbekannten mit großen Augen an. Offenbar hatte sie zu dieser späten Stunde mit dem Grafen gerechnet, der seine Zeit wieder einmal an den Spieltischen von Paris verbrachte.
„Seid Ihr das, Honoré? Pauline, ich brauche dich jetzt nicht mehr, du kannst schlafen gehen!“, ertönte eine hohe Frauenstimme aus dem oberen Stockwerk.
Marcel legte warnend den Finger vor dem Mund, noch bevor die Zofe etwas antworten konnte.
„Psst, ich komme im Auftrag des Grafen. Es soll eine Überraschung für Madame werden. Bitte verrate mich nicht. Darf ich eintreten?“
Das Mädchen nickte widerstandslos und gab den Eingang frei. Marcel bewegte sich geschmeidig die Treppe hinauf und stand bald darauf in der Tür vor dem Ankleidezimmer einer Dame. Die Kokotte des Grafen saß vor dem Spiegel und überlegte gerade, welches Collier sie zu der Verabredung mit dem Geliebten anlegen sollte. Ihr meergrünes Kleid aus Naturseide betonte die Makellosigkeit ihrer hellen Haut. Sie war zwar nicht schlank zu nennen, aber durchaus hübsch, ohne Zweifel. Dennoch von der billigen Schönheit eines Straßenmädchens, und ihr kleiner Mund war viel zu stark geschminkt. Das lockige rote Haar wurde von glitzernden Spangen hoch gehalten. Als sie die unscharfen Umrisse des Mannes hinter ihr im Spiegel erblickte, fuhr sie herum. Ihre grünblauen Augen funkelten ihn wütend an.
„Wer seid Ihr? Mit welcher Unverschämtheit betretet Ihr mein Haus zu dieser Stunde?“, fuhr sie ihn mit sich überschlagender Stimme an.
Marcel verbeugte sich artig, bevor er näher trat. Er schloss die Tür hinter sich, denn was gleich in diesem Raum geschehen würde, war nicht für neugierige Blicke bestimmt.
„Ich bin der Chevalier Saint-Jacques, Madame, verzeiht mein Eindringen, doch ich nehme mir dieses Recht, wie Ihr Euch das Recht nehmt, den Ehemann einer untadeligen Dame zu verführen, um Eures Vorteils willen.“ Seine Stimme klang so ruhig, fast hypnotisch.
„Was erlaubt ihr Euch?“ Voller Empörung hatte Pauline sich erhoben und schien mit ihrem lächerlichen kleinen Fächer auf ihn losgehen zu wollen.
„Verschwindet hier! Sofort! Oder ich rufe nach der Gendarmerie!“
Etwas irritierte sie an diesem Mann. Er wirkte so – anders. Sie konnte keinen genauen Begriff dafür finden. Da war etwas in seinem Blick und in seiner Stimme, was sie lähmte und ihren eigenen Willen außer Kraft zu setzen schien.
Marcel reagierte nicht. Ihre hohe Stimmlage tat seinen feinen Ohren weh. Statt ihrer Aufforderung Folge zu leisten, ging er auf sie zu. Pauline wich zurück. Sollte sie laut schreien? Was würden die Nachbarn denken? Und wenn Honoré jetzt kommen würde?
Marcel unterbrach ihren Gedankengang. Schneller als ihr nächster Atemzug war er schon bei ihr und tauchte seine Zähne in ihre Halsschlagader. Als er sich gestärkt hatte, wartete er.
Gegen drei Uhr morgens hörte er, wie der Schlüssel sich um Schloss der Haustür herumdrehte und ein offenbar betrunkener Mann die Treppe hinauf kam. Seine Schritte waren ungleichmäßig, und er summte ein Lied, das die Dirnen in der Gosse sangen. Er hatte sich wohl gut amüsiert in dieser Nacht. Ohne anzuklopfen, riss er die Tür zum Schlafzimmer seiner Geliebten auf.
„Pauline, chérie. Mein Engel, bist du noch wach?“, fragte er mit heiserem Singsang in die Dunkelheit hinein, bevor er die Tür wieder schloss. Honoré glaubte, die Anwesenheit eines Menschen zu spüren und nahm an, dass es sich nur um Pauline handeln konnte. Es war stockdunkel, aber den Weg zum Bett kannte er auswendig. Er schwankte darauf zu, als eine leise Stimme mitten aus der Dunkelheit zu kommen zu schien: „Pauline ist nicht mehr wach, Monsieur, aber sie schläft auch nicht!“
Dem Grafen stockte der Atem. Noch bevor er sich von diesem Schrecken erholen konnte, spürte er auch schon den stechenden Schmerz an seinem Hals, der sich tiefer und tiefer in sein Leben bohrte, um es endgültig auszulöschen.
In dieser Nacht gab es nicht nur zwei
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