Im Bann der Lilie (Complete Edition)
Montfort, der Marcel aus der Ferne im Auge behielt, wähnte nun seinen Bruder als bereits verloren. Damit würde er auch dessen Erbteil einkassieren können! Doch das war nicht der alleinige Grund: Aufgrund von heuchlerisch religiösen Vorstellungen war dem Vicomte die gleichgeschlechtliche Neigung seines Bruders zuwider.
Philippe und Armand hatten das Haus bereits verlassen und gingen in Richtung der Pferdeställe, wo die auch die Kutschen der Gäste bereitstanden. Unbemerkt folgte der junge Vampir ihnen auch weiterhin und konnte sehen, wie sie im Stall etwas aus einem Heuhaufen hervorzogen. Es handelt sich um kleine Reisetaschen und unauffällige Kleidung. Sie begannen, eilig ihre Kostüme abzulegen, um sich umzuziehen. Offenbar hatten sie ihre Flucht gut vorbereitet. Zwei der Reitpferde waren bereits gesattelt. Als sie ihre Kleider gewechselt hatten, versteckten sie die Kostüme wieder in dem Heuhaufen. Sie blickten sich an, umarmten sich wortlos. Marcel musste sich nun zu erkennen geben und trat aus den Schatten heraus. Die beiden fuhren auseinander und schauten ihn ängstlich an.
„Keine Angst“, beschwichtigte Marcel die beiden und hob lächelnd beide Hände, um zu zeigen, dass er nicht bewaffnet war. Sie atmeten erleichtert aus.
„Was wollt Ihr von uns?“, fragte Armand. Er schien der Stärkere von beiden zu sein, während der blonde Philippe eher ein labiler, zurückhaltender Mensch war.
Sollte Marcel ihnen die Wahrheit sagen? Dass er der gefürchtete Rédempteur war und der Vicomte ihn beauftragt hatte, Philippe aus dem Weg zu schaffe? Zum ersten Mal spürte der Vampir, dass nicht er die Menschen benutzte, sondern diese ihn für seine Zwecke einspannten, und diese plötzliche Gewissheit gefiel ihm gar nicht. Zumindest ahnte er, woher Juliens Sarkasmus und Verachtung stammte.
„Vielleicht kann ich Euch helfen“, schlug er deshalb vor.
„Wer seid Ihr denn überhaupt, und warum mischt Ihr Euch in unsere Angelegenheiten ein?“, fragte Armand wachsam. Er hatte sich schützend vor seinen Freund gestellt.
„Ich bin der Chevalier Saint Jacques.“
„Nie gehört“, murmelte Philippe im Hintergrund.
„Also schön, Euer Bruder möchte Euch aus dem Weg haben, da Ihr Euch einer Hochzeit verweigert.“
„Ich wusste es!“, stieß Philippe empört aus und trat vor. Armand hielt ihn am Arm zurück.
„Wenn Ihr Philippe tötet, so müsst Ihr auch mich umbringen!“, rief er jetzt mutig aus, obwohl er sich insgeheim fragte, wie dieser Fremde das ohne eine Waffe bewerkstelligen wollte. Er konnte weder einen Degen noch eine Pistole bei ihm ausmachen.
„Ich werde niemanden von Euch umbringen“, sagte Marcel amüsiert. „Aber sagt mir, wie steht Ihr, Philippe, Eurem Bruder gegenüber? Hasst Ihr ihn? Soll ich ihn an Eurer Stelle beseitigen?“
„Um Gottes willen! Nein. Ich empfinde keinen Hass für Clement. Lasst ihm sein Leben, bitte.“ Philippes Stimme klang aufrichtig und flehend.
Marcel nickte stumm. Er hatte sich so etwas schon gedacht.
„Hört zu. Wir beide wollen nur in Frieden leben. Sonst nichts. Die Gesellschaft macht es uns schon schwer genug, so dass wir nur einander vertrauen können!“, bat Armand jetzt und ging auf Marcel zu. „Lasst uns ziehen, Monsieur le Chevalier.“
Marcel drehte sich wortlos um und verließ den Pferdestall. Er spürte noch die Blicke der beiden jungen Männer auf seinem Rücken. Gleichzeitig spürte er tief in seinem Inneren seine eigene Einsamkeit. Diese beiden hatten wenigstens noch einander.
Julien, mein Freund, wo steckst du nur?, dachte er, während er langsam zu Fuß die Auffahrt zum Haus in Richtung Tor ging, welches das Anwesen von der Straße abschirmte. Ein paar Kutscher der anderen Gäste sahen ihm nach. Mochten sie doch denken, dass er ein betrunkener Gast war, der nicht wusste, wo er hin wollte. Marcel spürte ein Gefühl in sich aufsteigen, wie damals, als er noch ein Mensch war. Ein Gefühl unterdrückter Tränen. Aber die Engel der Nacht konnten nicht weinen!
Zwei Reiter mit wehenden Umhängen und tief ins Gesicht gezogenen Hüten trabten an ihm vorbei, hoben kurz die Hand zu Gruß, bevor sie in der Dunkelheit verschwanden. Marcel kehrte zu seinem Friedhof zurück, ohne in dieser Nacht ein Opfer gefunden zu haben. Wahrscheinlich würde der Vicomte nach dem Verschwinden seines Bruders sowieso dessen Erbteil geltend machen. Marcel wollte nur noch schlafen. Der Rédempteur würde für einige Zeit von der Bildfläche verschwinden. Dennoch
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