Im Bann der Lilie (Complete Edition)
wollte er ab und an die Briefe an ihn lesen, die Lisette bringen würde. Sie schienen ihm die einzige Verbindung zu einer Welt, die er selbst schon vor so langer Zeit verlassen hatte.
Die politischen Wirren in dieser Zeit ließen den Chevalier Saint-Jacques kalt, obwohl der Name des Heerführers Napoléon in aller Munde war. Man sprach seinen Namen entweder mit Hass oder mit Achtung aus. Hätte Marcel gewusst, wie sehr dieser Name mit dem des Marquis verbunden war, so hätte er alles daran gesetzt, diesen zu finden, bevor Bonaparte mit seinem Expeditionsheer nach Ägypten aufbrach! Aber davon erfuhr er erst sehr viel später.
Natascha Gräfin Berzinsky selbst packte im Frühjahr 1798 der Wunsch, ihren Freund und Wohltäter wieder zu sehen, nachdem das plötzliche Ableben ihres Mannes ihr den Rest seines gewonnenen Geldes beschert hatte und sie wieder ein sorgenfreies Leben führen konnte. Bevor sie in ihre Heimat Russland zurückkehren würde, wollte sie ihm nochmals danken. Aber wie sollte sie das bewerkstelligen? Wenn sie Nachrichten für den Rédempteur erhielt und sie, wie gewünscht, durch ihre Dienerin Lisette auf den Friedhof bringen ließ, dann waren sie stets am nächsten Morgen verschwunden. Jetzt aber stapelten sie sich bereits seit mehreren Wochen, obwohl sie geöffnet wurden, so hatte ihr Lisette besorgt berichtet. Die Gräfin begann, sich Sorgen zu machen. Also versuchte sie es auf ihre Weise: Sie sandte ihm selbst eine Nachricht, eine Einladung zu ihrer Abschiedsfeier, bevor sie Paris für immer verlassen würde. Sie wusste, dass ihre Krankheit sie in ihrer Heimat würde sterben lassen und hoffe, den ihr Unbekannten noch ein letztes Mal zu sehen. Bei ihrer Abschiedsfeier war nur der kleinste Kreis ihrer Bekannten anwesend und klopfenden Herzens erwartete sie ihren „Erlöser“. Jedes Mal, wenn der Diener die Haustür öffnete, um einen neuen Gast hinein zu lassen, schaute sie mit Erwarten und Bangen in diese Richtung. Marcel kam nicht. Als ihre letzten Gäste in den frühen Morgen das schöne alte Haus verließen, blieb Natascha enttäuscht zurück. Sie entließ ihre Dienerschaft, wobei ihr die treue Lisette mit Tränen in den Augen um den Hals fiel, und ging allein in das oberste Stockwerk. Die Koffer waren gepackt und standen bereit zum Abtransport am nächsten Morgen. Ein letztes Mal blickte sie sich um. In diesem Haus war sie jahrelang eine Gefangene ihrer unglücklichen Ehe gewesen, hatte um die Liebe ihres untreuen Ehemannes gekämpft und auch noch den geliebten Sohn verloren. Nun, da sie frei war, würde sie bald die letzten Monate ihres Lebens in ihrem geliebten Russland verbringen. In Ihrem Zimmer stand ein Strauß frischer roter Rosen in einer Porzellanvase. Erstaunt ging sie darauf zu. Hatte einer ihrer Gäste ihr eine kleine Überraschung hinterlassen? Nach kurzem Suchen entdeckte sie die Karte zwischen den zarten Blüten. „Merci pour tout, Madame.“ Darunter nur ein Name: Marcel
Es konnte sich also nur um einen letzten Gruß und einen kleinen Vertrauensbeweis ihres unbekannten Freundes handeln. Sie gab der kleinen Karte einen Kuss und legte sich schlafen. Morgen würde sie auf eine lange Reise gehen.
Nachdem er Nataschas Einladung unter all den Bittbriefen entdeckt hatte, beschloss Marcel, seine alte Tätigkeit wieder aufzunehmen. Eines Nachts machte er sich wieder einmal auf den Weg zu dem Grabmal der ihm unbekannten Familie LaRochelle, welches ihm als Briefkasten diente. Er freute sich auf eventuelle neue Aufgaben, um damit gleichzeitig seine immerwährende Sehnsucht nach Blut zu stillen. Vielleicht bedurfte ja auch der eine oder andere Mensch wirklich seiner Hilfe? Plötzlich drangen aus der Ferne leise Stimmen zu ihm heran. Zu so später Stunde konnte höchstens noch ein heimliches Liebespaar auf diesem verlassenen Friedhof sein , dachte er. Eine dieser Stimmen klang ungehalten, ja, fast aufgeregt. Und keine von beiden war die einer Frau. Seine Neugierde war geweckt. Lautlos näherte er sich der Richtung, aus der die Stimmen kamen. Dabei fiel ihm auf, das eine davon nicht Französisch, sondern Englisch sprach, und das ohne jeglichen Akzent. Neugierig verbarg er sich in den Schatten der alten Grabmäler. Zwei gut gekleidete Männer konnte er vor sich erkennen, die offenbar nichts Gutes im Schilde führten. Marcel schnappte Worte auf, in denen es um eine Eroberung ging. Er hörte einzelne Fetzen wie Napoléon, Ägypten, Abukir, Nelson und Flotte heraus. Die Stimmlage der
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