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Im Bann der Lilie (Complete Edition)

Im Bann der Lilie (Complete Edition)

Titel: Im Bann der Lilie (Complete Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Grayson
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„N“ – und war Bonaparte allein vorbehalten. Hierin befanden sich Abschriften der wichtigsten Kartographien und – darunter versteckt – das in Öl gemalte Bild von Marcel Saint-Jacques. Während Julien das Bildnis immer nur in einem vergoldeten Rahmen in Erinnerung behielt, hatte der schlaue Korse längst den Rahmen entfernt und es in seiner Militärausrüstung unter Juliens Augen davon geschmuggelt. Es war die ganze Zeit auf dem gleichen Schiff gewesen, mit dem er und der Marquis de Montespan wochenlang gereist waren. Immer, wenn Napoleon dieses Bild betrachtete, fühlte er sich weniger einsam.
    Du bringst mir Glück, mein Junge. Und ich möchte, dass das so bleibt!, dachte er in dieser Nacht, in der außer ihm nur die Wachen im Lager kein Auge zu machten. Obwohl er bei weitem nicht abergläubisch war, so kam es ihm doch vor, als ob ihn das Glück der Eroberung verlassen würde, sobald er dieses Bild aus seinen Händen gab. Vielleicht war das aber auch nur Einbildung? Warum hatte er sonst das Gemälde seinem Leibarzt nicht zurückgegeben? Sein kleines Täuschungsmanöver hatte Bonaparte auch nicht viel weiter gebracht. Er hatte Julien de Montespan während ihrer gemeinsamen Zeit als einen sehr verschwiegenen Menschen kennengelernt, der seine Geheimnisse wohl zu hüten wusste. Er hatte niemals über seine Familie, seine Vergangenheit oder gar seine Zukunftspläne gesprochen. Noch viel weniger von diesem Jüngling, den er hatte malen lassen. Nur seine Augen hatten verräterisch aufgeleuchtet, jedes Mal, wenn er dessen Abbild an der Wand betrachtete. Als es eines Tages, kurz vor ihrer Abreise, verschwunden war, wurde der Marquis nahezu ungehalten, bis er ihm besagten Vorschlag unterbreitete, ihn auf seiner Expedition zu begleiten. Bonaparte wusste genau, dass er allein wegen dieses Bildes die lange Reise gemacht hatte. Bonaparte blickte sich um in dem großen Raum, so als könnten die Wandgemälde ihm eine Antwort auf all seine Fragen geben. Ihre prächtigen Farben zeigten ägyptische Gottheiten wie Osiris, Anubis und Isis sowie Szenen aus alten Mythen. Das Auge des Horus schien ihn zu beobachten. Dazwischen Schriftzeichen, die nicht einmal seine mitgebrachten Wissenschaftler bislang entschlüsseln konnten. Eines aber war ihm klar: die Ägypter glaubten fest an die Unsterblichkeit. War es das, was ihn selbst so faszinierte? Was er in den Augen dieses glutäugigen Jungen auf dem Bild und sogar in Juliens Blick zu finden glaubte? Geheimes Wissen, dunkle Mächte, ewiges Leben? Vielleicht war Julien aber gar nicht mehr am Leben nach der Schlacht vor Alexandria? Was würde geschehen, wenn dieser Marquis eines Tages hinter seinen kleinen Betrug kommen würde? Mit diesem Mann war sicherlich nicht gut Kirschen essen, wenn man ihn verärgerte. Napoleon seufzte. Wenn er doch nur Gewissheit hätte. Dann wäre seine Freude an diesem Gemälde umso größer ausgefallen. Gedankenvoll rollte der Heerführer das Bild wieder zusammen und verbarg es mit den anderen Karten in der ledernen Kartusche. Diese wiederum bewahrte er sogar des Nachts immer in greifbarer Nähe auf.

Am nächsten Vormittag lief die englische Fregatte aus der Nelson-Armada mit dem Reisekoffer des Marquis an Bord in Liverpool ein. Sobald die Unruhe an Bord abgeklungen war und die Besatzung ihren verdienten Landgang genoss, wagte sich der erschöpfte Vampir aus seinem Versteck. Er sprengte den festgezurrten Kofferdeckel mit all seiner verbliebenen Kraft und sah sich in dem Raum um. Einige leere Kisten und Fässer standen herum. Die Vorräte schienen also fast aufgebracht und bald würde man neue laden, um nach erfolgter Instandsetzung des Kriegsschiffes wieder in See zu stechen. Ihn dagegen quälte der Durst. Eine so lange Seereise voller Entbehrungen hinterließ Spuren bei dem alten Vampir. Er hatte viel von seinem jugendlichen Aussehen verloren. Behände ging Julien die Holzstiegen hinauf und wagte es, vorsichtig die Luke anzuheben. Er hatte Glück: Dichter Nebel lag über dem Hafen wie eine dunkelgraue Decke. Ein einsamer Posten stand hinten am Heck und rauchte eine Pfeife. Nur dessen Umrisse waren zu erkennen. Vom Pier drangen die Geräusche der Händler und ihrer Wagen gedämpft herüber. Ein guter Zeitpunkt, diese schwimmende Folterkammer für immer zu verlassen!
    Julien hüllte sich in seinen schwarzen Reiseumhang, mit dem er bislang den Koffer ausgepolstert hatte und schlich an der Reling entlang bis über den Steg, der auf die Kaimauer führte. Dort

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