Im Bann der Lilie (Complete Edition)
mischte er sich unerkannt unter die wenigen Menschen, die bei diesem Wetter unterwegs waren. Froh, wieder auf sicherem Boden zu stehen, sog der Marquis die schwere, feuchte Nebelluft dankbar ein. Diese Hafenstädte rochen doch alle gleich, befand er daraufhin: Sie trugen das Parfüm von Geld, Gier und Verrat wie eine Hure vor sich her. Sie waren ein El Dorado für Glücksritter, Namenlose und verlorene Seelen aller Art. Eigentlich ein idealer Ort für einen Blutsauger, doch das normalerweise quirlige Treiben entsprach nicht dem Niveau des französischen Edelmanns. Julien brauchte einen geeigneten Rückzugsort in diesem fremden Land, dessen Sprache er zwar dank seiner Fähigkeiten verstand, aber nur bruchstückhaft beherrschte. Er musste sich unbedingt wieder auf seine ureigenen Fähigkeiten besinnen! Zu lange hatte er als Heilkundiger in den Diensten der Sterblichen gestanden. Jetzt wollte er sich den edlen, vampirischen Künsten wieder zuwenden, allein, um das für ihn so wertvolle Gemälde ausfindig zu machen und diesem arroganten Korsen seine Rache spüren zu lassen. Seit dem Zwischenfall auf der CULLODENhasste er Napoleon Bonaparte, der ihn mit Versprechungen in dieses Abenteuer gelockt und ihm solche Qualen beschert hatte, indem er ihn das Beisammensein „seines“ Marcel mit einem fremden Sterblichen miterleben ließ! Sein ganzer Zorn konzentrierte sich nun auf den Eroberer. Wenn Bonaparte ihn belogen und er diese Odyssee ganz umsonst auf sich genommen hatte, würde er sich hier und jetzt dessen Feinden anschließen! Vielleicht bedurfte man bei Hofe eines Alchemisten oder Sternkundigen? Auch wenn das Zeitalter der Aufklärung und die fortschreitende Industrialisierung bereits begonnen hatten und man diesen Begriff heute mit dem Deckmantel der Wissenschaft umschrieb, so gab es immer noch genug abergläubige Adelige in jedem Land. Einer von denen würde ihm bestimmt Schutz bieten, bis seine Stunde schlug! Zu seinem Glück war sein Geldbeutel mit einigen Goldstücken noch gut gefüllt. Als erstes würde er ein gutes Pferd kaufen und sich auf den Weg nach London machen. Vielleicht würde einer seiner Landsleute im Exil ihm weiterhelfen? Und die fand man mit Sicherheit in der Nähe des englischen Königshauses, wo sie sich im Schatten der Monarchie sonnten, um sich so einen Hauch des eigenen früheren Glanzes zu erhalten.
Zwei Stunden später trug ihn ein kräftiger, frisch beschlagener Grauschimmel aus der Stadt. Etwas Edleres war auf die Schnelle nicht aufzutreiben gewesen. Während das Ross beschlagen wurde, hatte der Marquis in einem Zuber im Hinterhof der Schmiede ein heißes Bad genommen und sich vom Gehilfen des Schmiedes frische Reisekleidung besorgen lassen. Das englische Tuch war weit weniger kleidsam, dafür aber sehr strapazierfähig. Hätte der Nebel sich inzwischen aufgelöst, wäre er bis zum Abend bei dieser gastfreundlichen Familie geblieben, die er bei seiner Abreise mit einigen Silbermünzen reichlich belohnte. Der Schmied hatte ihm die grobe Richtung gezeigt, in der er sich halten sollte, um zur Hauptstadt zu gelangen. Er musste sich beeilen, aus der Stadt zu kommen, solange der dichte Nebel noch anhielt – auch wenn der Schmied ihm versichert hatte, dass dieses Wetter oft tagelang andauerte. Er wollte sich für die weiteren Stunden des Tages ein sicheres Versteck suchen, bevor er des Nachts weiter ritt. Außerdem brauchte er immer noch dringend Nahrung. Ein Opfer in dieser belebten Stadt zu suchen, hätte ihm vielleicht nur Unannehmlichkeiten beschert. Er hielt sich dicht an der Küste, denn landeinwärts würde es bestimmt aufklaren. Von Ferne konnte er das Licht eines Leuchtturmes erkennen. Ein ideales Versteck, dass vielleicht sogar eine blutige Mahlzeit für ihn bereithielt, denn diese sogenannten Lighthouses wurden mit Kohlefeuern betrieben und bedurften einer steten Aufsicht! Julien grinste und gab dem Gaul die Sporen. Dieser trabte mehr oder weniger blind stolpernd durch die graue Nebelwand schnurstracks auf das Leuchtfeuer zu.
Nach Einbruch der Dunkelheit machte sich der Marquis de Montespan erneut auf den Weg. Der magere alte Mann, der das Feuer hütete, hatte seinen Durst gerade notdürftig gestillt und ihm zu seinem ursprünglichen Aussehen verholfen. Die weiße Haut war nun wieder straff und jugendlich, der Körper geschmeidig. Doch damit dies von Dauer sein würde, musste er seine Kräfte weiter auftanken. Er hoffte daher, dass ihm unterwegs ein weiteres unbedachtes
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