Im Bann der Lilie (Complete Edition)
desto eher konnte er ihm die Waffe entreißen. Gleichzeitig versuchte er, in dessen Gedanken einzudringen. Aber Townsend ließ sich nicht provozieren.
„Wie ist denn Euer Name und was macht Ihr als unser Feind in meinem Land?“, wollte er nun wissen.
„Ich habe keine Feindschaft mit Eurem Land. Ehrlich gesagt, es interessiert mich nicht im Geringsten, wer sich zurzeit mit wem im Krieg befindet. Es ist doch jedes Mal das Gleiche! Ich will nur einen Freund finden“, erwiderte Julien ungehalten.
Diesmal war Townsend tatsächlich verwirrt. Vor seinem geistigen Auge erschien das Gesicht des mysteriösen jungen Mannes, den er für verschiedene Aufträge angeheuert hatte. Bei diesem Auftragskiller hatte er einen Verdacht gehegt, als er die Leiche der armen Fabienne untersuchte und nur zwei blutige Einstichstellen gefunden hatte.
„Einen Freund?“, wiederholte er nun mehr zu sich selbst. Dann blickte er dem nächtlichen Reisenden mitten ins Gesicht. „Einer der Eurigen?“
Damit war offensichtlich sein Wesen als Vampir gemein. Julien nickte angespannt.
„Marcel Saint-Jacques?“
„Ihr kennt ihn?“, rief der Marquis nun aus und näherte sich dem Engländer ohne Angst. Dieser ließ auch prompt die Waffe sinken.
„Dann seid Ihr wohl Julien de Montespan“, resümierte er.
Langsam hatten sich die Puzzleteile in seinem Kopf zusammengesetzt und ein merkwürdig abstraktes Bild ergeben: Wenn der ehemalige Leibarzt Napoleons hier auf der Insel war und ebenfalls ein Vampir – waren dann die Franzosen mit diesen Untoten im Bunde? War der Eroberer eventuell selbst …? Wenn er das dem König berichten würde. Oh mein Gott, dachte Townsend, Der arme König George hat bereits Anfälle von Wahnsinn. Wie würde er eine solche Nachricht verkraften?
Als Julien diesen Gedanken in seinem Kopf empfing, musste er laut lachen, so absurd war er. Aber dann wurde er schlagartig ernst. „Was wisst Ihr über Marcel?“, fragte er eher grimmig.
Townsend zuckte die Achseln. „Wo er sich jetzt aufhält, kann ich nicht sagen. Er hat einige delikate Aufträge für mich erledigt, und ich habe ihn dafür als Frachtgut auf ein Schiff namens MARY-ANNE bringen lassen. Er wollte Euch konsultieren wegen seiner Krankheit, wie er sagte. Er hatte gehört, dass Ihr in Napoleons Diensten steht und wollte unbedingt zu Euch. Das Schiff sollte in Alexandria Fracht für einige Kapitäne aus der englischen Flotte abladen. Mehr weiß ich nicht.“
Julien spürte, dass dieser Mann die Wahrheit sagte. Marcel war also ebenso auf der Suche nach ihm gewesen wie er nach Marcel. Und dann war dieser kleine, sterbliche Strolch von einem Schiffsjungen dazwischen gekommen. Die MARY-ANNE musste erst eingelaufen sein, als er Alexandria bereits wieder verlassen hatte auf diesem gottverdammten Kriegsschiff. Vielleicht war sie aber auch angegriffen und versenkt worden? Womöglich war Marcel schon tot? Daran mochte Julien gar nicht denken.
„Die französische Flotte wurde vor Abukir vernichtend geschlagen. Das dürfte Euch bekannt sein“, erwähnte der Marquis jetzt möglich sachlich. „Vielleicht drang die Kunde davon in einem der Häfen zu diesem Handelsschiff?“
Seine blauen Augen forschten dabei nach einer Antwort in dem Gesicht des Engländers. Dieser schwieg und schien zu überlegen.
„Die MARY-ANNE sollte einen Zwischenstopp zum Ent-und Beladen in Cádiz und in Neapel einlegen“, erinnerte er sich. „Wenn die Meldung vom Sieg der Engländer sie in Italien erreicht hat, segelt sie vielleicht gleich zurück nach Dover. Das Mittelmeer ist jetzt komplett in unserer Hand. Es droht ihr keine Gefahr mehr. Oder sie wartet auf die Ankunft der beschädigten Fregatten in Neapel. Dort gibt es eine kleine Werft. Alles ist möglich. Ich stecke nicht in der Haut ihres Kapitäns“, meinte Townsend fast entschuldigend.
„Dann besteht zumindest ein Funken Hoffnung, dass Marcel jetzt in Neapel sein könnte“, murmelte der Marquis.
Mit einem Schlag hatte er seine gesamten Pläne geändert. London war bereits vergessen. Der kürzeste Weg nach Italien führte von Dover nach Calais, quer durch Frankreich bis hinunter nach Sizilien. Oder … wieder auf einem Schiff durch die Straße von Gibraltar. Julien schüttelte es bei dem Gedanken. Trotzdem musste er von dieser Insel runter! Und dieser Townsend sollte ihm dabei helfen. Er richtete wieder das Wort an den dürren Engländer.
„Hört zu, ich bin gerne bereit, Euch und Eurem König zu Diensten zu sein. Auch ich
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