Im Bann der Lilie (Complete Edition)
Opfer begegnen würde. Immer noch zogen vereinzelte Nebelschwaden über die Küste hinweg landeinwärts. Es war windstill, und nur die Nachtvögel begleiteten die einsame Reise des alten Vampirs. Ab und zu passierte er eines der hölzernen Hinweisschilder, die ihn nach London führten. Abgesehen davon war der Boden schwer und schlammig, ein deutliches Zeichen dafür, dass es hier oft regnete. Aber dafür war dieses Land ja bekannt, dachte der Marquis. Ein rasches Vorwärtskommen war somit kaum möglich. Kurz vor dem Morgengrauen musste er jedoch ein Wirtshaus oder einen anderen Unterschlupf erreichen. Die Zeit saß ihm also im Nacken, und er wünschte sich mehrmals, dass dieser lahme Ackergaul ein Rennpferd wäre.
Plötzlich scheute der Schimmel und rammte schnaubend die Vorderbeine in die aufgeweichte Erde. Ein Mensch stand winkend am Wegesrand und schwenkte eine Laterne. Jetzt rannte der aufgeregte Mann auf den Reiter zu.
„Sir, bitte bleibt stehen. Ich bin kein Wegelagerer, nur ein armer Kutscher, dessen Gefährt mit einem gebrochenen Rad liegengeblieben ist. Mein Herr muss dringend nach London an den Hof und wartet in der Kutsche. Er war furchtbar wütend. Ich wäre Euch sehr dankbar, wenn Ihr mir helfen könntet. Es ist ganz bestimmt nicht weit!“
Schnaufend hatte der untersetzte Mann im Kutschermantel diese Sätze dem Marquis zugerufen und dabei mit der Hand in seine Reiserichtung gezeigt. Der Franzose hielt inne. Sollte er einfach weiter reiten? Was hatte er mit diesem unglücklichen Diener zu schaffen? Außer, dass er ihm sein Blut stehlen würde? Aber vielleicht besaß seine Kutsche ja bessere Pferde, mit denen ein schnelleres Weiterkommen möglich war! Die beiden letzten Argumente bewogen Julien schließlich dazu abzusteigen und dem Mann zu folgen, den zögerlichen Schimmel am Zügel hinter sich her zerrend.
Nur fünfzig Meter weiter stand die geschlossene Reisekutsche mit einem gebrochenen Hinterrad schräg am Wegesrand. Die Pferde waren abgeschirrt und an einem nahegelegenen Baum angebunden worden. Sechs Dunkelbraune – der Inhaber dieses Wagens musste es wahrhaft eilig haben, denn so viele Pferde waren für diesen leichten Wagen gar nicht nötig! Ihm sollte es egal sein. Er würde seinen müden Schimmel gegen einen dieser Vollblüter austauschen. Der Kutscher bückte sich gerade, um das defekte Rad von der Nabe zu ziehen. Er hatte die Kutsche bereits mit mehreren Steinen abgestützt. Wo befand sich sein Herr? Hatte er sich in diesem Gefährt bereits zur Nachtruhe begeben? Julien de Montespan sah seine Stunde gekommen. Er hatte keine Zeit zu verlieren, packte den erstaunten Diener von hinten am Genick und tauchte ohne zu zögern seine Fangzähne in dessen Hals. Der Vampir trank in großen Zügen, bis der Körper des Mannes in seinen Armen erschlaffte und er ihn zu Boden sinken ließ. Dann erst bemerkte er die zweite Person, die inzwischen aus der Kutsche gestiegen war und ihn mit einer einläufigen Pistole bedrohte. Die Hand des hageren Engländers zitterte leicht, das konnte man im Schein der einzigen Laterne deutlich erkennen.
„Wagt es nicht“, zischte dieser jetzt dem Marquis zu. „Ich kenne Euresgleichen und weiß, dass Silber Euch zumindest arge Schmerzen zufügen dürfte. Diese Pistole enthält eine Silberkugel und ich kann verdammt gut zielen.“
Die Worte beeindruckten den französischen Adeligen weniger als die Aussage, dass dieser Fremde offenbar schon einem Vertreter seiner Rasse begegnet war. Genau das machte ihn neugierig. Mit einer lässigen Handbewegung zog er sein Spitzentaschentuch aus dem Ärmel und tupfte sich das restliche Blut von den Lippen. Dann wandte er sich an den Herrn mit der Pistole.
„Darf ich wenigstens fragen, wer mich da mit einer Silberkugel bedroht?“, fragte er zynisch mit einem starken französischen Akzent. Der Engländer hob erstaunt die Brauen. Mitten in der Nacht einem Vertreter Frankreichs zu begegnen, mit dem halb Europa sich im Krieg befand, war zumindest ungewöhnlich.
„Mein Name ist Townsend. William Townsend. Ich stehe in Diensten seiner Majestät George des Dritten.“
„Und als was, wenn ich fragen darf? Etwa als Vampirjäger?“
Der amüsierte Gesichtsausdruck des Marquis irritierte den Engländer.
„Ich leite den Geheimdienst Ihrer Majestät, wenn Ihr es genau wissen wollt.“
„Aha, und seid sozusagen mitten in der Nacht auf geheimer Mission.“
Offenbar wollte Julien diesen Fremden provozieren. Je unachtsamer dieser wurde,
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