Im Bann der Lilie (Complete Edition)
habe noch eine Rechnung mit diesem Korsen offen. Aber bringt mich auf dem schnellsten Wege nach Italien.“
William Townsend blickte erstaunt. Mit dieser Wende hatte er nicht gerechnet. Dann kam dem cleveren Geheimdienstler eine Idee.
„Also schön, ich werde Euch einen Vorschlag machen: Ihr kommt als Arzt unbeschadet in die Nähe Napoleons und werdet für uns als Kundschafter tätig, damit wir wissen, wo er seine Truppen als nächstes hinführt. Dafür werde ich meine Beziehungen in Italien spielen lassen und herausfinden, ob Euer … Freund dort ist. Wenn dem so ist, werden meine Leute ihn benachrichtigen und bitten, nach England zu kommen oder Euch irgendwo zu treffen. In der Zwischenzeit reist Ihr mit mir nach London und ich besorge dort ein Schiff, das Euch auf direktem Wege nach Italien bringt – sollte es dann immer noch nötig sein.“
Townsend wollte den Adeligen also als Spion akquirieren. Aber das war Julien in diesem Augenblick egal.
„Wie wollt Ihr das so schnell bewerkstelligen? Das dürfte Wochen, wenn nicht gar Monate dauern. Bis dahin könnte Marcel überall sein.“
Die Stimme des Marquis schwankte zwischen Furcht und Besorgnis, Marcel schon wieder zu verlieren. Außerdem kündete der erste helle Streifen am Horizont vom Anbruch des neuen Tages. Townsend grinste nur und öffnete den Kutschenschlag. Er kramte unter dem Sitz einen kleinen schwarzen Kasten hervor.
„Haltet kurz die Laterne“, bat er Julien.
Er öffnete eine der Schubladen des Kastens, entnahm Feder und ein winziges Stück Papier und schrieb seine Botschaft in englischer Sprache darauf. Dann rollte er es zusammen. Julien legte plötzlich seine Hand auf seinen Arm.
„Dann findet auch heraus, ob er allein ist oder in Begleitung eines jungen Mannes“, forderte er.
„Das lässt sich einrichten. Aber was spielt das für eine Rolle?“, fragte Townsend.
„Eine große“, murmelte Julien.
„Ich verstehe. Wenn dem so ist, was soll mit diesem jungen Mann geschehen?“
„Tötet ihn!“
Townsend ergänzte seine Botschaft dementsprechend, griff dann in eine der größeren Klappen des Kastens und holte eine nervös flatternde Brieftaube heraus. Er befestigte die kleine Rolle in einer Kapsel am Fuß des Tieres und ließ es frei. Es flog aufgeregt davon und war bald nur noch ein winziger Punkt in den blaugrauen Wolken. Dann wandte sich der Brite wieder dem Marquis zu.
„Die Taube wird früher in London sein als wir. Solange biete ich Euch meine Kutsche als Versteck an. Ihr könnt die Vorhänge zuziehen. Ich bin sicher, wir werden bald Hilfe finden, um wieder flott zu werden. Dies ist ein viel genutzter Weg.“
Im Gewand eines wohlhabenden Bürgersohns schritt Marcel gemeinsam mit seinem Gefährten Silvio durch die abendlichen Gassen Neapels. Um nicht übermäßig aufzufallen, wählte er diese gewöhnliche Art der Fortbewegung. Diese Stadt begann bereits jetzt, ihn zu langweilen, obwohl sie erst wenige Wochen hier waren. Dies war nicht sein Land und Neapel besaß nicht die gewohnte Noblesse seiner französischen Städte. Es glich einem geduckten Tier, das an der Küste kauerte, weil es keinen anderen Platz mehr fand. Alles erschien ihm so eng und schmutzig wie auf diesem gottverdammten Schiff. Wollte Silvio tatsächlich in Neapel verweilen? Die Nachforschungen beim örtlichen Pfarrer hatten bislang keine neuen Erkenntnisse in Bezug auf Silvios Familie gebracht. Nur eine längst verstorbene Urgroßmutter ließ sich auf dem besagten Friedhof ausfindig machen.
Der junge Italiener spürte die Unzufriedenheit seines gefährlichen Freundes. An diesem Abend waren sie unterwegs, um gemeinsam in einem der besseren Lokale ein Glas Wein zu trinken. Ihre Stunden des Zusammenseins waren begrenzt. Silvio wusste, dass die Nächte Marcel gehörten. Dann ging er auf die Jagd. Am Tage dagegen war er einsam. Manchmal beobachtete er den schlafenden Vampir in dem oberen, abgedunkelten Raum. Es wäre so leicht, ihn jetzt zu töten, dachte er einmal und erschrak gleich darauf bei diesen Gedanken. Offenbar hatte der junge Chevalier doch bedingungsloses Vertrauen zu ihm, dem dahergelaufenen und heimatlosen Schiffsjungen. Mit dieser Gewissheit legte er sich einfach an die Seite des wie tot Daliegenden und schlief neben ihm ein.
Dafür genoss er – wie gerade heute – jede Stunde, die er gemeinsam mit Marcel verbringen durfte. An diesem Abend spürte der Vampir, dass sie beobachtet wurden. Ein schlicht gekleideter Herr, anscheinend auf der
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