Im Bann der Lilie (Complete Edition)
Durchreise, saß an einem der hinteren Tische und schaute verdächtig oft zu ihnen herüber. Seinen Teller mit Spaghetti hatte er bereits aufgegessen und er tat so, als würde er konzentriert eine Zeitung lesen – eine englische Zeitung. Der Fremde war vielleicht Mitte Dreißig, trug einen gepflegten Schnauzbart und einen Spitzbart am Kinn, was ihm das Aussehen eines Wiesels gab. Marcel war es gewohnt, wegen seines exotischen Aussehens angestarrt zu werden, doch dieser Herr schien sich mehr für Silvio zu interessieren.
Gerade kam ein Diener an ihren Tisch und brachte zwei frische Gläser Roten. „Mit den besten Empfehlungen von dem Herrn da drüben. Er scheint ein Landsmann von ihnen zu sein, denn ich soll Ihnen dies hier geben.“ Damit überreichte er Marcel eine mit rotem Lack versiegelte Depesche mit der geziert verschnörkelten Handschrift des Marquis. Pour le Chevalier Saint-Jacques stand auf dem Umschlag. Das Siegel zeigte die ihm bekannte Lilie. Neugierig brach Marcel es auf. Es war tatsächlich ein Brief von Julien, der ihm mitteilte, dass dieser sich derzeit am Hofe George III. in England befand, sich jedoch abreisebereit hielt, um erneut über Italien zu Napoleon zu stoßen. In etwa drei Wochen würde er in Neapel sein. Ein gewisser William Townsend (den kannte er doch?) hatte ihm einen schnellen Segler besorgt. Er bat ihn darin inständig, auf ihn zu warten, seinen menschlichen Freund zu verlassen und zu ihm zurückzukehren. Wieder der Satz „Je t´attends.“ Ich warte auf Dich.
Woher wusste Julien von seiner Beziehung zu Silvio?
Sein Freund hatte ihn beim Lesen aufmerksam beobachtet und spürte die innerliche Aufgewühltheit, die in Marcels schwarzen Augen und in seinem Gesicht zum Ausdruck kam.
„Alles in Ordnung? Oder schlechte Nachrichten?“, erkundigte er sich besorgt.
Marcel schüttelte den Kopf und warf einen Blick zu dem Tisch hinüber, an dem der merkwürdige Gast gesessen hatte. Sein Platz war leer.
„Nein, nein, alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen“, beruhigte er jetzt Silvio. Dieser atmete auf. Dennoch blieb da ein mulmiges Gefühl. Marcel und er verließen das Lokal kurz vor Mitternacht. Die Oktobernachtluft war bereits empfindlich kühl und Silvio fror trotz des wärmenden Umhangs. Der junge Vampir empfand die Temperatur dagegen eher als angenehm.
„Besser du gehst direkt nach Hause und wärmst dich auf, bevor du dich erkältest. Es ist eh schon spät“, schlug er seinem Freund vor. Nur ungern wich Silvio von seiner Seite. Doch für ihn war es das Stichwort, dass Marcel den Rest der Nacht allein durch die Gassen streifen wollte, aus den ihm wohlbekannten Gründen. Aber nicht der Blutdurst drängte Marcel dazu, seinen Weg allein fortzusetzen. Die Nachricht des Marquis und der seltsame Fremde gingen ihm nicht aus dem Kopf. Er musste nachdenken. Julien war also in England und auf dem Weg nach Italien. Napoleon und sein Heer befanden sich immer noch im Nahen Osten. Was wollte der Marquis von dem Eroberer? Townsend gehörte zum Geheimdienst seiner Majestät, das wusste Marcel, aber wieso sollte Julien sich in dessen Dienste stellen? Der durchtriebene Vampir tat nichts uneigennützig. Ihm schwante, dass sein Erschaffer noch eine Rechnung mit dem Korsen offen hatte. Sollte er ihm etwa dabei helfen?
Einige Zeit lang gingen die beiden Gefährten schweigend nebeneinander her. Dann zog Marcel seinen Freund in den unbeleuchteten Eingang zu einem Hinterhof. Die beiden jungen Männer umarmten sich innig. Silvio klammerte sich an Marcel wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring.
„Stimmt was nicht?“, fragte dieser ihn sanft, aufgrund der ungewohnt heftigen Umarmung. Silvio schüttelte statt einer Antwort nur leicht den Kopf. Ich habe einfach nur Angst, dich zu verlieren, dachte er dabei. Marcel hörte diesen Gedanken in seinem Geist und musste lächeln. Sanft löste er sich aus der Umklammerung. „Findest du den Weg allein nach Hause?“, fragte er.
Silvio nickte.
„Gut dann sehen wir uns morgen.“ Mit diesen Worten strich der hübsche Vampir zärtlich über Silvios linke Wange, gab ihm einen flüchtigen Kuss und war wenige Sekunden später in der sternklaren Nacht verschwunden. Traurig setzte Silvio seinen Weg zu ihrem angemieteten Haus fort, den Umhang fröstelnd um seine schmalen Schultern gezogen. Ab und zu blickte er sich um. Einmal glaubte er, Schritte hinter sich zu hören. Aber da war niemand. Wen hatte er auch erwartet? Marcel war zu einem Teil dieser Nacht
Weitere Kostenlose Bücher