Im Bann der Lilie (Complete Edition)
warteten. Aufgeregt fächelte sich Marie Luft zu. Vor der Bühne stimmte das Orchester die Instrumente ein. Marcel war hinaus gegangen, um noch ein Programmheft im Foyer zu besorgen. Als er zurückkehrte, bemerkte Clement, der schräg hinter ihnen saß, wie Marcels Hand sanft über Silvios Schulter glitt, als er diesem das Programm überreichte. Silvio sah hoch und blickte in das lächelnde Gesicht seines Freundes. Dieses Lächeln war wenig verwandtschaftlich, eher bittend und zärtlich. Um die Mundwinkel des blonden Cherubs zuckte es verräterisch, hatte er sich doch zuvor noch über die eher feindseligen Blicke des schönen Italieners seiner Schwester gegenüber gewundert, die neben Silvio saß. Kaum hatte der Chevalier wieder Platz genommen, als der Vorhang zum ersten Akt gezogen wurde. Schon bei der ersten Pause stand fest, dass es eine eher langweilige Vorstellung werden würde, auch wenn der abgedunkelte Raum Marcel Gelegenheit gegeben hatte, die Hand seines Freund zu suchen, die dieser ihm jedoch – immer noch erzürnt – entzog. Die jungen Leute verließen die Oper früher als geplant, und Marcel lud sie aus Höflichkeit noch mit in das Palais ein, um einen Schlummertrunk zu sich zu nehmen. Sonst würden die Eltern Devereaux möglicherweise beleidigt sein, wenn ihre Kinder so früh von diesem, von ihnen erhofften, Stelldichein zurückkehrten.
Aus dem geplanten Schlummertrunk wurden drei Flaschen Champagner, und irgendwann war die hübsche Marie einfach auf dem Sofa zur Seite gesunken und eingeschlafen.
„Das war wohl ein Gläschen zuviel“, stellte ihr Bruder spöttisch fest, als er sie auch nach mehrfachem Rütteln an den Schultern nicht wach bekam. „Nichts zu machen“, gab er auf.
Marcel überlegte kurz.
„Bringt sie nach oben. Im ersten Stock steht ein Schlafzimmer leer. Ihr könnt bis morgen früh hier bleiben. Es ist besser, sie schläft erst ihren Rausch aus, bevor sie euren Eltern wieder unter die Augen kommt.“ Für diesen Vorschlag erntete er allerdings einen weiteren giftigen Blick aus Silvios Augen.
Gesagt, getan. Das Feuer im Kamin verglühte langsam. Die alte Standuhr im Wohnzimmer schlug die Mitternacht. Bald herrschte im ganzen Haus nächtliche Stille und schläfrige Ruhe.
Still und ruhig? Fehlanzeige.
Silvio und Marcel stritten sich mit verhaltenen Stimmen in ihrem Schlafzimmer, das von noch vom Schein zahlreicher Kerzen erhellt wurde. Alkohol zeigte bei Vampirnaturen keinerlei Wirkung. Sie hatten eine Karaffe mit Blut vorrätig, die sie nach dem Zubettgehen der Menschen leerten.
„Wie kannst du es wagen, dieses Weibsstück in unserem Haus übernachten zu lassen?“, war Silvio explodiert, als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.
„Bitte, beruhige dich. Ich habe keinerlei Absichten mit dieser Marie, so glaub mir doch.“
„Ach ja, und was sollte dann dieses Theater mit Heirat und Mitgift?“
„Silvio, wir brauchen Geld, um unseren Lebensstandard halten zu können. Daran führt kein Weg vorbei. Eine Pferdezucht aufzubauen kostet sehr viel Zeit. Vergiss bitte nicht, dass wir ewig leben. Aber als Bettler macht das fürwahr keinen Spaß!“
„Und deshalb verkaufst du dich?“ Wieder standen Tränen in Silvios Blick.
„In diesem Fall nur meinen Namen. Ich würde sie niemals anrühren, glaub mir doch endlich.“
„Wie kann ich das? Du hattest doch schon mal was mit einer Frau! Das hast du mir selbst erzählt!“
Wütend riss Silvio sein Hemd auf, warf es in die Ecke, setzte sich mit nacktem Oberkörper auf die Bettkante vergrub das Gesicht in den Händen.
„Und das liegt Jahrzehnte zurück! Außerdem hat es nichts bedeutet.“
Marcel blickte Silvio voller Sorge an und begann, sich ebenfalls zu entkleiden. Wie sollte er seinen Freund überzeugen, dass es bei dem Vorschlag Devereauxs wirklich nur um ein Geschäft ging? Dass er keinerlei Interesse an dem Körper dieser Achtzehnjährigen hatte, so verlockend dieser auch für andere Männer sein mochte?
Er trat zu Silvio, fuhr mit seiner Hand durch dessen dunkle Locken, öffnete das Band, das die Haare zu einem Zopf im Nacken gebunden hielt. Silvio riss sich unwillig los und stand auf.
„Es ist besser, ich gehe!“, fauchte er und wollte nach seiner Jacke greifen, als sich Marcels Arme von hinten um ihn schlangen. Silvios Körper war seit seiner Wandlung von makellos weißer Schönheit, selbst die Bissnarben, die Marcel hinterlassen hatte, als Silvio noch ein Mensch war, waren verschwunden. Im Kontrast dazu
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