Im Bann der Träume
können. Man mußte eine sichere Erinnerung an den betreffenden Punkt haben, ihn eindeutig und klar ins Gedächtnis zurückrufen können, um ihn mit der Kraft der Scheibe zu erreichen. Und was war mit Lantee bei der Niederlassung geschehen? War er noch am Leben nach diesem gewaltigen Schlag der Wyvern?
Konnte man vielleicht auch einen Menschen als Ziel annehmen? Nicht um ihn herbeizuholen, wie sie es auf so unglückliche Art mit Gytha getan hatte, sondern um zu ihm zu gelangen?
Aber wie? Solange sie die Scheibe hatte, konnte sie sich auf deren Muster konzentrieren, bis diese Konzentration dann den Weg nach Irgendwohin, nach Anderswo fand und sie im Sprung dorthin trug. Im Korridor hatte sie unbewußt die Muster an der Wand dazu benützt. Wichtig war also nicht die Scheibe an sich, sondern das Muster. Angenommen, sie vermochte es in Gedanken genau nachzuzeichnen? Flucht? Das wäre vielleicht ihre einzige Chance. Sonst kam sie ja nie von hier weg. Warum also nicht das Unlogische versuchen?
Aber wohin? Zur Niederlassung? Zur Mooswiese? Keiner der Punkte, auf die sie sich konzentrieren konnte, brachte sie dem Posten des Überwachungsdienstes näher. Wenn sie aber zu Lantee gelangen könnte … Ihn konnte sie sich klar genug vorstellen. Die einzige andere Möglichkeit war Jagan, und von dem konnte sie keine Hilfe erwarten, falls er noch am Leben war.
Lantee hatte einige Erfahrung mit den Träumern der Wyvern, und er hatte die Kraft; sie mußte ihn auch für eine geistige Botschaft empfänglich machen. Darüber konnte sie nur Vermutungen anstellen, aber es war die beste Möglichkeit, die sich ihr bot; das heißt, falls es ihr gelang, das Muster ihrer Befreiung zu setzen.
Wie? Der Fels war zu rauh, um Linien hineinzukratzen. Der schlüpfrige Schlamm am Rande der Mulde zog Charis’ Aufmerksamkeit an. Mit einem scharfen Stein oder einem Zweig von den kleinen Büschen konnte ihr eine Zeichnung gelingen; aber sie mußte es richtig anfangen.
Charis schloß die Augen und begann, in ihrem Gedächtnis das Bild ihrer Erinnerung aufzubauen. Es war eine Wellenlinie, die sich an den Enden einringelte. Dann kam eine Unterbrechung. Noch etwas. Etwas fehlte. Erregt durchforschte sie ihr Gedächtnis. Vielleicht …
Aber der Schlick wurde immer höher vom Wasser überspült. Der Wind blies heftiger und kälter. Tsstu schmiegte sich eng an sie, und Charis drückte sich eng an den schützenden Felsen. Sie mußte warten, bis der Sturm nachließ.
Ob sie dem Sturm und dem heftigen Regen standhalten konnte? Der Fels war ihr einziger Schutz, ihr Hoffnungsanker. Es dauerte nicht lange, da spülte das Wasser in der Mulde über ihre Füße.
Tsstu war die tröstende Wärme in ihren Armen und so etwas wie Sicherheit. Wie weit verstand Tsstu das, was ihnen zugestoßen war? Sie konnte den Intelligenzgrad des Tierchens nicht abschätzen, denn sie hatte keine Vergleichsmöglichkeiten. Tatsache war aber, daß die Verbindung wirksam war, wenn auch nicht in dem Maß wie mit Menschen oder humanoiden Wesen.
Dann ließ endlich der Wind nach, der Himmel wurde heller, und der Regen wurde zum Nieseln. Aber noch immer war sich Charis des Musters nicht ganz sicher. Trotzdem beobachtete sie ungeduldig, wie das Wasser in der Mulde allmählich fiel und ein Stück von dem Schlick freigab.
Golden schimmerte der Himmel, als sie endlich einen kleinen Zweig abbrach und die Blätter abstreifte. Ihre Ungeduld wuchs. Sie schöpfte mit den Händen das Wasser aus der Mulde und legte so einen Streifen blauen Schlicks frei. Jetzt! Ihre Hände zitterten. Sie spannte ihren ganzen Willen an, um dieses Zittern zu unterdrücken und dann setzte sie die Spitze ihres Schreibgerätes auf die feuchte Fläche.
Die Wellenlinie mit den Kringeln an beiden Enden … Dann die Unterbrechung. Was noch? Charis schloß die Augen. Was fehlte? Sie konnte sich nicht erinnern.
Verzagt sah sie auf das fast vollendete Muster hinunter. »Fast« reichte aber nicht aus, es mußte vollständig und richtig sein. Tsstu saß neben ihr und sah wie gebannt auf die Linien. Plötzlich streckte sie ein Pfötchen aus und stellte es unter die Linien, bevor Charis noch abwehren konnte. Sie schrie auf. Tsstus Ohren legten sich flach an den Kopf, und sie knurrte leise, zog aber die Pfote zurück. Drei kleine Punkte zeichneten sich deutlich im Schlick ab. Drei Punkte? Nein, zwei. Charis lachte. Tsstus Gedächtnis schien besser zu sein als das ihre. Sie glättete den Schlamm und begann wieder; diesmal ging es
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