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Im Bann der Träume

Im Bann der Träume

Titel: Im Bann der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Norton
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Charis wußte, wo »zurück« war. Es schien keinen Ausweg aus diesem Chaos von Zeichen zu geben, nichts, an das sie sich klammern konnte. Und dann sah sie ihr eigenes, ins Grobe, Verzerrte übertragenes Zeichen; sie erkannte es genau.
    »Tsstu!« Sie hob das Tierchen auf; es kam ihrem tastenden Griff entgegen. Diese mattsilbernen Linien glommen durch die Dunkelheit. Konnte sie entfliehen, wenn sie sich auf dieses Zeichen konzentrierte wie auf ihre Scheibe?
    Charis zögerte. Fliehen? Wohin? Zurück in die zerstörte Niederlassung? Oder zur Mooswiese? Sie mußte sich ihr Ziel genau vorstellen, oder sie konnte es nie erreichen. Wiese? Niederlassung? Nein, dorthin wollte sie nicht. Sie wollte nicht nur fliehen.
    Und dann saßen die Wyvern auf gekreuzten Beinen reihenweise auf ihren Matten, und alle konzentrierten sich auf die beiden vor ihnen. Der Raum war rund wie eine Schüssel und schien sich zu drehen. Gysmay und ihre Gefährtin mit den Schattenzeichnungen standen einander gegenüber, und zwischen ihnen auf dem dunklen Boden lagen unzählige regenbogenfarbene, nadelspitze Splitter. Über diesen Splittern schienen die beiden alles zu vergessen.
    Charis’ Haare sträubten sich wie unter der Einwirkung statischer Elektrizität, und ihre Haut prickelte. Sie spürte eine überwältigende Kraft. Niemand um sie herum schien ihr Kommen bemerkt zu haben, alle Kraft konzentrierte sich auf die Splitter.
    Sie hoben sich, wirbelten, tanzten, drehten sich zu kleinen Wolken zusammen, die Gysmay umkreisten, erst in Hüfthöhe, dann um den Hals, schließlich um den Kopf; als feiner Regen fielen sie in einem Muster auf den Boden. Eine Gefühlswelle kam auf Charis zu, eine Entscheidung oder Bitte – sie wußte es nicht genau.
    Wieder hoben sich die Nadeln zu ihrem Tanz, diesmal um die Wyvern mit dem Schattenmuster; langsamer nun und in gedämpfteren Farben. Dann fielen sie leise klingelnd zu einem Muster auf den Boden, um die Antwort zu geben …
    Von den Beobachtern ging eine neue Welle aus, diesmal schwächer. Man schien sich nicht einigen zu können. Vielleicht wollte Gysmay antworten, denn wieder hoben sich die Nadeln.
    Aber es wurde kein Tanz, sondern eine Wolke, die sich wie ein flacher Teller höher und höher hob, bis sie fast die Wölbung erreicht hatte.
    Das hatten sie nicht erwartet; erschreckt, fast erschüttert sahen sie zu. Gysmay und ihre Gefährtin hielten ihre Scheiben in den Händen. Sie bemühten sich, die Nadeln zurückzuholen, aber es gelang ihnen nicht; die Wolke schwebte vor und zurück, als hänge sie an einem unsichtbaren Pendel, und jeder Pendelschlag brachte sie Charis näher.
    Plötzlich wurde sie zu einem Pfeil, der drohend um ihren Kopf kreiste. Charis schrie vor Angst und Entsetzen. Die beiden nächsten Wyvern sprangen auf. Alle sahen Charis an.
    Zweimal, dreimal umkreiste die Wolke sie, und dann zog sie von ihr weg. Charis vermochte sich nicht zu rühren. Die Nachwirkung der ungeheuren Kraft machte sie zur Gefangenen. Dann brach die Wolke auseinander, und die Nadeln regneten silbern klingelnd zu Boden, formten aber diesmal kein Muster.
    Nicht aus eigenem Willen bewegte sie sich, sondern aus dem ihrer Beobachter, tat Schritt vor Schritt, bis sie im Freien stand, genau zwischen den beiden Wyvernhexen.
    »Was gelesen ist, das bleibt. Ein Traum ist der Wille jener, die vorher geträumt haben. Du Träumerin der Träume einer anderen Welt hast auch ein Wort zu reden …«
    »In welcher Sache?« fragte Charis laut.
    »In der von Leben und Tod; deines und unseres Blutes; der Vergangenheit und der Zukunft«, war die ausweichende Antwort.
    Charis wußte nicht, woher sie die Worte und den Mut zu ihrer Antwort fand: »Wenn eure Antwort bedeutet, daß diese Nadeln es für mich lesen müssen, oh Weisheit aller Weisheiten …«
    »Aber das ist jenseits dessen, was wir lesen«, antwortete die Wyvern mit dem Schattenmuster, »obwohl es eine Bedeutung hat. Wir können nur glauben, daß die Zeit noch nicht gekommen ist. Aber hier ist die Zeit ein Feind. Wenn jemand an einem Traum webt, so soll er die Fäden nicht zerschneiden. In unseren Träumen seid ihr, du und die Deinen, nicht willkommen.«
    »Wesen meines Blutes sind an der Küste gestorben«, erwiderte Charis. »Und doch kann ich nicht glauben, daß dies nach eurem Willen und durch eure Hände geschah.«
    »Nein, durch den ihren. Denn sie träumten einen irren Traum und verzerrten das Muster. Sie taten etwas, das jetzt nicht mehr zurückgeholt werden kann.«

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