Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Bann der Wüste

Im Bann der Wüste

Titel: Im Bann der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Erikson
Vom Netzwerk:
die Scherbe fallen.
    »Diese Stadt war schon lange tot, bevor das Meer ausgetrocknet ist«, sagte Fiedler und kletterte weiter.
    »Woher willst du das wissen?«, rief Crokus hinter ihm her.
    »Weil hier alles vom Wasser beschädigt worden ist, mein Junge. Diese Hafenmauer wurde von Wellen zerstört. Wellen, die jahrhundertelang dagegen gebrandet sind. Ich bin in einer Hafenstadt aufgewachsen, wie du dich vielleicht erinnerst. Ich habe gesehen, was Wasser anrichten kann. Der Imperator hat die Bucht von Malaz vertiefen lassen, bevor die Imperialen Piers gebaut wurden – und dabei sind alte Hafenmauern und all so was zum Vorschein gekommen.« Oben angekommen, machte er erneut Halt, um ein paar Mal tief Luft zu holen. »Das hat jedem gezeigt, dass Malaz älter ist, als alle geglaubt hatten.«
    »Und dass seither der Wasserspiegel der Meere gestiegen ist«, zog Mappo den offensichtlichen Schluss.
    »Ja.«
    Von oben auf der Hafenmauer hatten sie einen guten Blick auf die Stadt, die sich vor ihnen ausbreitete. Die Überreste waren zwar verwittert, aber es war dennoch klar, dass die Stadt vorsätzlich zerstört worden war. Jedes einzelne Gebäude war in einen Schutthaufen verwandelt worden – Macht und Wut hatten sich hier auf schreckliche Weise ausgetobt. Gestrüpp füllte jede freie Fläche, und niedrige, knorrige Bäume klammerten sich an Fundamenten fest und überragten die Schuttberge.
    Ein typisches Merkmal der örtlichen Architektur waren Statuen; sie säumten die breiten Kolonnaden und standen in Nischen an den Wänden eines jeden Gebäudes. Überall lagen marmorne Körperteile herum; sie wiesen alle jenen steifen Stil auf, den Mappo schon auf der Scherbe gesehen hatte. Der Trell begann eine Art von Vertrautheit mit der Sammlung porträtierter menschlicher Figuren zu verspüren.
    Eine Legende, die in der Jhag-Odhan erzählt wurde … eine Geschichte, die die Älteren meines Volkes erzählt haben …
    Icarium war nirgends zu sehen.
    »Und wohin jetzt?«, fragte Fiedler.
    Mappo vernahm plötzlich ein schwaches, schrilles Geräusch in seinem Kopf, das Schweißtropfen auf seine dunkle Stirn treten ließ. Er setzte sich in Bewegung.
    »Ihr habt irgendeine Fährte aufgenommen, stimmt’s?«
    Mappo hörte die Frage des Sappeurs kaum.
    Es war schwierig, den Grundriss der Stadt anhand der Überreste zu rekonstruieren, doch der Trell folgte seiner eigenen mentalen Landkarte, der Erinnerung an die Legende, ihren Rhythmus, ihr präzises Metrum, wenn sie in rauem, rasselndem Alt-Trell vorgetragen wurde. Völker, die nicht über eine Schrift verfügten, brachten es im Gebrauch der Sprache zu erstaunlichen Leistungen. Worte waren Zahlen waren Zeichen waren Formeln. In Worten verbargen sich geheime Landkarten, Entfernungsangaben, die Verstandesmuster von Sterblichen, die Muster von Geschichte, von Städten, Kontinenten und Gewirren.
    Der Stamm, der Mappo vor vielen Jahrhunderten adoptiert hatte, hatte sich entschlossen, zu den alten Lebensweisen zurückzukehren und die Veränderungen abzulehnen, die die Trell heimsuchten. Die Alten hatten Mappo und den anderen all das gezeigt, was in Gefahr war, verloren zu gehen – die Kraft, die im Erzählen von Geschichten lag, das rituelle Entfalten der Erinnerung.
    Mappo wusste, wohin Icarium gegangen war. Er wusste, was der Jhag finden würde. Sein Herz hämmerte wild in seiner Brust, und er eilte schneller und schneller vorwärts, während er über den Schutt kletterte und durch Dickichte voller Dornen durchbrach, die selbst seine harte Haut zerkratzten.
    In jeder Stadt des Ersten Imperiums gibt es sieben Hauptstraßen. Die Himmelsgeister schauen auf die heilige Zahl herab, sieben Skorpionschwänze, sieben Stachel, die dem Kreis aus Sand gegenüberstehen. Ihr alle, die ihr den Sieben Heiligen Opfer bringen wollt, richtet eure Blicke auf den Kreis aus Sand.
    Irgendwo hinter sich hörte er Fiedler rufen, doch der Trell antwortete nicht. Er hatte eine der gekrümmten Straßen gefunden und war unterwegs zum Zentrum.
    Die sieben Skorpionstacheln nachempfundenen Throne hatten einst über der Umzäunung aufgeragt, jeder siebzig Armspannen hoch. Alle waren zerschmettert worden … von Schwerthieben, durch eine unzerbrechliche Waffe, von Armen geschwungen, denen eine unbegreifliche Wut unglaubliche Kraft verliehen hatte.
    Von den Opfergaben und Tributen, die einst den Kreis aus Sand dicht an dicht gefüllt hatten, war so gut wie nichts übrig geblieben  – mit einer Ausnahme, vor der Icarium

Weitere Kostenlose Bücher