Im Bann der Wüste
sonderlich brutal zugegangen. Hier hat nur Traurigkeit geherrscht, und auch das war nicht mehr als ein unterschwelliges Gefühl. Städte sterben. Städte ahmen den Zyklus nach, dem alles Leben unterliegt: Geburt, kraftvolle Jugend, Reife, Alter, und dann schließlich … Staub und Tonscherben. Im letzten Jahrhundert, in dem diese Stadt noch gelebt hat, war das Meer bereits auf dem Rückzug, als ein neuer Einfluss wirksam wurde, etwas Fremdes. Es gab so etwas wie eine kurze Renaissance – wir werden den Beweis dafür im Hafen sehen –, aber das war wirklich nur ein kurzes Aufflackern.« Er schwieg vielleicht ein Dutzend Schritte lang. »Weißt du, Felisin, ich fange allmählich an, etwas vom Leben der Aufgestiegenen zu begreifen. Ein Leben, das Jahrhunderte, Jahrtausende währt. Zeuge solcher Blütezeiten in all ihrem vergänglichen Ruhm zu werden – ach, ist es ein Wunder, dass ihre Herzen kalt und hart werden?«
»Diese Reise hat dich deinem Gott näher gebracht, Heboric.«
Die Bemerkung ließ ihn verstummen.
Als sie den Hafen der Stadt erreichten, sah sie, was Heboric gemeint hatte. Die einstige Bucht war verschlammt, doch es waren vier gigantische Kanäle gebaut worden, die sich im Dunst verloren. Jeder einzelne von ihnen war so breit wie drei Stadtstraßen und genauso tief wie breit.
»Die letzten Schiffe sind durch diese Kanäle gesegelt«, sagte Heboric neben ihr. »Die größten Frachtschiffe haben an der fernen Mündung den Grund berührt, und sie konnten die Kanäle nur benutzen, wenn die Flut am höchsten stand. Ein paar tausend Bewohner sind zurückgeblieben, bis die Aquädukte ausgetrocknet sind. Dies ist eine Geschichte der Raraku, aber leider ist es nicht die einzige, und die anderen waren viel gewalttätiger, viel blutiger. Und doch frage ich mich, welche tragischer ist?«
»Du vergeudest deine Gedanken an die Vergangenheit – «, begann Leoman, wurde jedoch von einem Schrei des Toblakai unterbrochen. Der Riese war am Kopfende eines Kanals aufgetaucht. Der Wüstenkrieger verstummte und ging zu seinem Kameraden hinüber.
Als Felisin ihm folgen wollte, packte Heboric sie am Arm. Die unsichtbare Hand fühlte sich kühl und prickelnd an. Er wartete, bis Leoman außer Hörweite war; erst dann begann er zu sprechen. »Ich habe Befürchtungen, Mädchen – «
»Das überrascht mich nicht«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Der Toblakai will dich töten.«
»Um diesen Narren geht es nicht. Es geht um Leoman.«
»Er war Sha’iks Leibwächter. Wenn ich sie werde, habe ich nicht den geringsten Grund, seine Treue anzuzweifeln, Heboric. Meine einzige Sorge ist, dass er und der Toblakai Sha’ik beim ersten Mal alles andere als gut beschützt haben.«
»Leoman ist kein Fanatiker«, sagte der Ex-Priester. »Oh, er wird sicher die entsprechenden Lippenbekenntnisse ablegen, damit du es glaubst, aber in ihm ist eine gewisse Zwiespältigkeit. Ich glaube nicht einen Moment lang, dass er davon überzeugt ist, dass du wirklich die wieder geborene Sha’ik bist. Die Sache ist einfach die, dass die Rebellion eine Galionsfigur braucht – und zwar eine junge, starke, nicht die verbrauchte alte Frau, die die wirkliche Sha’ik gewesen sein muss. Beim Atem des Vermummten, sie war schon vor fünfundzwanzig Jahren eine Macht in dieser Wüste. Und du solltest vielleicht auch über die Möglichkeit nachdenken, dass diese beiden Leibwächter bei dem Versuch, sie zu verteidigen, keinen Schweißtropfen vergossen haben.«
Sie schaute ihn an. Die Tätowierungen bildeten ein beinahe festes, wirbelndes Muster auf seinem wettergegerbten Krötengesicht. Seine Augen waren rot und von getrocknetem Schleim gerändert, und eine dünne, graue Schicht trübte die Pupillen. »Dann kann ich aber auch annehmen, dass sie diesmal mehr Grund haben werden.«
»Vorausgesetzt, du spielst ihr Spiel mit. Leomans Spiel, um genauer zu sein. Er wird derjenige sein, der im Lager der Rebellen in deinem Namen zur Armee spricht – und wenn er Grund dazu hat, wird er Zweifel andeuten, und sie werden dich in Stücke reißen …«
»Ich fürchte Leoman nicht«, sagte Felisin. »Ich verstehe Männer wie ihn, Heboric.«
Er presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen.
Sie befreite ihren Arm aus seinem Griff und begann weiterzugehen.
»Im Vergleich zu diesem Leoman war Beneth weniger als ein Kind«, zischte der ehemalige Priester hinter ihr her. »Er war ein Halsabschneider, ein Schläger, ein Tyrann für eine Hand voll Unterdrückte. Jeder Mann
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