Im Bann der Wüste
die nach Nordosten strebten.
»Und jetzt warten wir, bis sich die Dinge wieder beruhigt haben«, sagte Lull.
Minuten vergingen, und die aus weiter Entfernung heranwehenden Schreie erstarben. »Hat Bult es eigentlich endlich geschafft, diesen Hauptmann der Sappeure aufzutreiben?«, fragte der Historiker schließlich.
»Ich habe sein Gesicht noch in keiner von den Quatschrunden gesehen, falls Ihr das wissen wolltet. Aber er ist hier. Irgendwo. Coltaine hat schließlich akzeptiert, dass der Mann schüchtern ist.«
»Schüchtern?«
Lull zuckte die Schultern. »Das sollte ein Witz sein, Historiker. Erinnert Ihr Euch noch daran, was Witze sind?«
Nil drehte sich zu ihnen um.
»Das war’s«, sagte der Hauptmann. »Kein Wort mehr.«
Ein halbes Dutzend wickanischer Wächter zogen die Pflöcke heraus, mit denen eine der Barrieren aus Weidenruten verankert worden war, und legten sie leise um. Ein dickes Fell wurde ausgerollt, um die unvermeidlichen Geräusche zu dämpfen, die sie machen würden, wenn sie darüber hinwegmarschierten.
Der Nebel jenseits der Barriere zerfiel in einzelne Schwaden. Eine dieser Wolken kam herangetrieben und ließ sich dann über der Gruppe nieder, hielt mit ihnen Schritt, als sie hinaus in die Ebene marschierten.
Duiker wünschte sich, er hätte vorher noch ein paar Fragen mehr gestellt. Wie weit war es zu den Außenposten des feindlichen Lagers? Wie wollten sie unentdeckt hindurchschleichen? Wie sah der Plan für den Rückzug aus, wenn irgendetwas schief gehen sollte? Er legte eine Hand an das Heft des kurzen Schwertes an seiner Hüfte und stellte erschrocken fest, wie fremd es sich anfühlte – es war verdammt lange her, seit er das letzte Mal eine Waffe benutzt hatte.
Aus den vordersten Linien herausgezogen zu werden war vor all den Jahren die Belohnung, die der Imperator mir gewährt hat. Das und die verschiedenen alchemistischen Mittelchen, die dafür sorgen, dass es mir immer noch gut geht, obwohl ich meine Jugend schon lange hinter mir habe. Ihr Götter, selbst die Narben von jenem letzten entsetzlichen Kampf sind verschwunden! »Niemand, der zwischen Schriftrollen und Büchern aufgewachsen ist, kann über die Welt schreiben«, hatte Kellanved einst zu ihm gesagt. »Und genau aus diesem Grund mache ich dich zum Imperialen Historiker, Soldat.«
»Aber ich kann weder lesen noch schreiben, Imperator.«
»Ein unbefleckter Geist. Sehr gut. Toc der Ältere wird dich in den nächsten sechs Monaten unterrichten – auch er ist ein Soldat mit Verstand. Aber merk dir, sechs Monate. Und nicht einen einzigen Tag mehr.«
»Imperator, mir scheint, dass er für diese Aufgabe viel besser geeignet wäre als ich …«
»Mit ihm habe ich etwas anderes vor. Tu was ich dir sage, oder ich lasse dich draußen auf der Stadtmauer aufspießen.«
Kellanveds Sinn für Humor war selbst in seinen besten Zeiten seltsam gewesen. Duiker erinnerte sich an die Unterrichtsstunden: er, ein Soldat von etwas über dreißig Jahren, der mehr als die Hälfte seines Lebens im Feld verbracht hatte, hatte neben Tocs eigenem Sohn gesessen, einem Zwerg von einem Knaben, der ständig erkältet zu sein schien – die Ärmel seines Hemdes waren mit einer Kruste aus getrocknetem Rotz überzogen. Es hatte länger als sechs Monate gedauert, doch da hatte ihn schon Toc der Jüngere unterrichtet.
Der Imperator hat es genossen, Lektionen in Sachen Bescheidenheit zu erteilen. So lange sie nicht auf ihn zurückgefallen sind. Ich frage mich, was wohl mit Toc dem Älteren geschehen ist? Er ist nach den Morden verschwunden – ich habe immer geglaubt, dass Laseen daran schuld wäre … und Toc der Jüngere – er hat es abgelehnt, sein Leben zwischen Schriftrollen und Büchern zu verbringen … und jetzt ist er auf dem Genabackis-Feldzug verschollen …
Eine behandschuhte Hand legte sich auf die Schulter des Historikers und drückte fest zu. Duiker schaute in Lulls ramponiertes Gesicht, nickte. Tut mir Leid. Es scheint, als ob mein Verstand noch immer abschweift.
Sie hatten Halt gemacht. Ein Stück voraus erhob sich ein vor spitzen Pfählen starrender Wall aus fest gestampfter Erde, der im Nebel nur verschwommen zu erkennen war. Feuerschein ließ den Nebel jenseits der Barrikaden orangerot leuchten.
Und was jetzt?
Die beiden Waerlogas knieten fünf Schritt vor ihm im Gras. Beide verhielten sich vollkommen reglos.
Sie warteten. Duiker hörte gedämpfte Stimmen von der anderen Seite des Walls; sie wanderten langsam von links nach
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