Im Bann der Wüste
als an der Oberfläche der Welt zu kratzen, so schwach und beladen wie wir sind. Jedes Drama, das sich innerhalb der Zivilisationen abspielt, das von Menschen mit ihren Überzeugungen und Gebärden handelt, bedeutet nichts, bewirkt nichts – mag es auch noch so gewaltig sein. Das Leben kriecht weiter, immer weiter. Sie fragte sich, ob das Geschenk der Offenbarung – die Bedeutung dessen zu entdecken, was der Menschheit zu Grunde lag – wirklich nichts anderes zu bieten hatte als ein verheerendes Gefühl der Sinnlosigkeit. Es sind die Unwissenden, die etwas finden und daran festhalten, denn darin liegt die Illusion von Bedeutsamkeit. Treue, ein König, eine Königin oder ein Imperator, oder Rache … das sind alles Bollwerke der Narren.
In ihrem Rücken stöhnte der Wind, wirbelte zu ihren Füßen kleine Staubfahnen auf, leckte wie eine raue Zunge über ihre Haut. Er brachte einen leichten Geruch nach Gewürzen mit.
Felisin schätzte, dass ungefähr eine Stunde vergangen war, als Heboric das erste Mal Halt machte. Sie standen vor dem riesigen Eingang irgendeines Tempels, dessen Säulen – wuchtig und breit – so bearbeitet worden waren, dass sie eine gewisse Ähnlichkeit mit Baumstämmen hatten. Unterhalb der geborstenen, durchhängenden Säulenplatte verlief ein Fries, dessen Felder wie gerahmte Bilder wirkten, die von Kulps magischem Licht von unten unheimlich beleuchtet wurden.
Der Magier starrte zu den Bildern hinauf. Beim Atem des Vermummten!, formten seine Lippen unhörbar.
Der ehemalige Fener-Priester lächelte.
»Es ist ein Kartenspiel«, sagte Kulp.
Noch so ein erbärmlicher Versuch, so etwas wie Ordnung in die Dinge zu bringen.
»Das Ältere Spiel, ja«, antwortete Heboric mit einem Nicken. »Nicht mit Häusern, sondern mit Vesten. Sphären. Kannst du Leben und Tod erkennen? Und Dunkel und Licht? Siehst du die Veste des Tiers? Wer sitzt auf dem Geweih-Thron, Kulp?«
»Er ist leer – vorausgesetzt ich schaue mir gerade den an, den du meinst. Der Rahmen zeigt verschiedene Kreaturen. Der Thron wird von T’lan Imass flankiert.«
»Ja, das ist er. Und du sagst, es sitzt niemand auf dem Thron? Eigenartig.«
»Warum?«
»Weil jedes Echo einer Erinnerung mir sagt, dass da sonst jemand gesessen hat.«
Kulp grunzte. »Nun, er ist nicht beschädigt – man kann die Rückenlehne des Thrones sehen, und sie ist genauso verwittert wie alles andere.«
»Da sollten auch irgendwo die Neutralen sein, die keinem Haus zugehören – kannst du sie entdecken?«
»Nein. Vielleicht sind sie an der Seite oder auf der Rückseite?«
»Möglicherweise. Unter ihnen wirst du auch Gestaltwandler finden.«
»Das ist ja alles furchtbar faszinierend«, sagte Felisin gedehnt. »Ich nehme an, dass wir diesen Ort betreten werden – zumindest weht der Wind in diese Richtung.«
Heboric lächelte. »Stimmt. Am gegenüberliegenden Ende werden wir dann den Ausgang finden.«
Das Innere des Tempels war nicht mehr als ein Tunnel, Wände, Boden und Decke lagen unter festen Schichten aus Sand verborgen. Der Wind wurde umso lauter, je tiefer sie in den Tunnel vordrangen. Vierzig Schritte weiter konnten sie ein Stück voraus ein blasses, ockergelbes Licht erkennen.
Der Tunnel wurde enger, und der heulende Wind machte es fast unmöglich, nicht kopfüber vorwärts geschoben zu werden, sodass sie kurz vor dem Ausgang schließlich gezwungen waren, flach auf den Boden geduckt weiterzukriechen.
Heboric machte kurz vor der Schwelle Halt, um zunächst Kulp und dann Felisin vorbeizulassen. Der Magier trat als Erster nach draußen, gefolgt von Felisin.
Sie standen auf einem Felssims, der Mündung einer Höhle hoch oben in der Klippe. Der Wind zerrte an ihnen, als wollte er sie hinausjagen, sie in die Luft schleudern – was mit einem tödlichen Sturz in die zerklüfteten Felsen zweihundert oder mehr Armspannen unter ihnen geendet hätte. Felisin trat einen Schritt zurück, um sich am Rand der Höhlenöffnung festzuhalten. Die Aussicht hatte ihr den Atem verschlagen und die Knie weich werden lassen.
Der Wirbelwind raste nicht vor ihnen, sondern unter ihnen; er erfüllte das ganze, weite Becken der Heiligen Wüste. Ein feiner Schleier aus schwebendem Staub trieb über einer Schicht aus brodelnden, orangefarbenen und gelben Wolken. Die Sonne war ein randloser Ball aus rotem Feuer tief im Westen, und noch während sie zusahen, wurde ihr Farbton allmählich dunkler.
Nach einem langen Augenblick stieß Felisin ein bellendes Lachen aus.
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