Im Bann des Adlers
Überlebenschance dahin. Schnaufend und keuchend erreichte Victor endlich den Vorsprung und somit auch den Eingang. Schon von Weitem hatte er die höhlenartige Öffnung gesehen. Die Straßenpiste endete einige Meter tiefer, also wurde sie wohl das letzte Stück getragen.
Nun, als er endlich davor stand, hatte er Angst vor dem, was ihn erwartete. Gar nicht auszudenken, wenn er zu spät kam. Doch schnell verdrängte er seine ungute Ahnung und zwängte sich durch die enge Öffnung in einen schmalen Gang, den er nur stark gebückt entlang gehen konnte. Ein größerer in den Fels gehauener Raum tat sich vor ihm auf. An den Wänden links und rechts standen Holzfässer. Irgendein Getränk, vielleicht Bier, wurde hier früher wohl kalt gehalten. „Jessica!“, rief er laut und untersuchte die leeren Fässer, doch nirgends war sie zu entdecken und es rührte sich auch nichts. Hoffentlich war sie wirklich hier. Am Ende der Kammer war ein Loch und der dahinter liegende extrem schmale Gang, führte ihn noch tiefer in den Berg. Seine Finger waren bereits klamm vor Kälte, als er sich in die schmale Höhlung gleiten ließ. Mit den Füßen voran schlitterte er abwärts. Seine Schuhe stießen an etwas Hartes und mit einem metallischen Klonk kam er zum Stehen. Es war eine dünne Eisenplatte.
Unbeholfen drehte er sich in dem beengten Tunnel um und suchte nach einer Öffnung, während er immer wieder Jessicas Namen rief. Kein Lebenszeichen war zu hören. Es gab keinen Riegel oder Griff, mit dem er die Platte bewegen konnte. Mit vor Kälte steifen Fingern suchte er die Ränder des Metalls ab. Wenn seine Geliebte da drin war, musste man sie irgendwie hineingebracht haben. Es gab nur diesen Zugang. Wo war der Trick? Am harten scharfen Fels schrammten seine Fingerknöchel entlang und Blut lief ihm über die Hände. Endlich, am rechten inneren Rand der Platte fühlte er etwas langes, hartes, wie eine Art Bolzen. Victor drückte ihn mit aller Kraft nach oben, doch nichts rührte sich. Tief durchatmend und sich auf die Bewegung konzentrierend probierte er es ein zweites Mal. Mit einem leichten Klacken bewegte sich das Blech minimal in seine Richtung. Vorsichtig schob er seine Hand in den Spalt und zog daran.
Langsam und am Stein entlang schrammend schob er die Barriere auf. Vor Schreck setzte sein Herz für eine Sekunde aus.
In der kleinen Höhlung saß Jessica, den Kopf auf die Knie gelegt, sich selbst mit den Armen umschlungen. Sie reagierte nicht auf seine Rufe, und als er ihren Körper umschlang, fühlte sich dieser eiskalt an. Zuerst glaubte er sie sei tatsächlich erfroren, denn er konnte keinerlei Lebenszeichen feststellen. Er war kein Arzt, aber angesichts der Tatsache, dass sie drei Tage in diesem eiskalten Loch ausharren musste, stand es schlecht um ihr Leben. „Ich bin bei dir. Du bist in Sicherheit. Wir müssen hier unbedingt raus Liebste.“ Stammelte er, während er sie fest umschlungen hielt. Doch nichts zeigte an, dass sie ihn überhaupt hörte, oder wahrnahm. Als er ihren Kopf an seinem Hals barg, spürte er ganz flach ihren Atem. Sie lebte! Um sie wenigstens etwas zu wärmen, zog er ihr mühsam den mitgebrachten Pullover über. Jessicas bewusstlosen und somit doppelt so schweren Körper hier raus zu bekommen, war keine Kleinigkeit. Aber wenn er wollte, dass sie überlebte, dann mussten sie aus der Kälte.
Victor nahm den Schlafsack vom Rucksack und breitete diesen vor dem Aufgang aus. Vorsichtig hievte er sie darauf. Ganz behutsam schob er nun die darauf liegende Gestalt nach oben. Er war froh, dass sie nichts zu spüren schien, denn angenehm war diese Prozedur nicht. Mit Sicherheit würden einige Prellungen und Schürfwunden daran erinnern. Angekommen in dem Lagerraum packte er ihre Gestalt komplett in den Schlafsack, um sie zu wärmen. Mit Mühe trug er sie aus dem Schneekeller. Endlich draußen brach die Sonne gerade durch die Wolken und er erschrak zutiefst, als er ihr ins Gesicht sah. Die Lippen waren blau angelaufen und aufgesprungen, ihre Wangen eingefallen. Purpurne Ringe fanden sich unter den Augen, alles an Jessica wirkte stumpf und leblos. Heiße Tränen liefen ihm übers Gesicht. „Das habe ich nicht gewollt, nie. Wieso habe ich nicht schon früher gehandelt. Por Amor de Dios, lass es nicht zu spät sein.“ Was tun, wohin mit ihr? Hier konnten sie nicht bleiben, viel zu kalt. Solange sie in diesem Zustand war, kamen sie niemals bis zum Auto. Da fiel ihm die Hütte ein, in der er die Nacht verbrachte.
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