Im Bann des blauen Feuers
Marie besaß die Gabe nicht. Also war es an ihr, das Erbe weiterzugeben.“
Céleste blinzelte irritiert. Was redete Ash denn da bloß? Woher wusste er so viel über ihre Mutter? Und was zum Teufel hatte das alles zu bedeuten? Es brannte ihr unter den Nägeln, ihn mit all diesen Fragen zu bombardieren. Aber sie ahnte, dass sie damit die eigentümliche Verbindung zerstören würde, die Ash allein durch die Berührung des Rings aufgebaut zu haben schien.
Aber vielleicht gab es ja auch einen anderen Weg? Schon einmal hatte sie das gesehen, was er sah, hatte mit ihm seine Erinnerungen geteilt. Warum sollte es nicht noch einmal funktionieren?
Sie atmete tief durch und ergriff seine andere, freie Hand.
Die Welt um sie herum zersplitterte in einem Funkenregen.
Lächelnd nahm die junge Frau mit einem Plastiklöffel etwas Fruchtpüree auf und fütterte das kleine Mädchen, das vor ihr auf dem Hochstuhl saß. Die Wangen des Kindes waren gerötet, es plapperte fröhlich vor sich hin. Mutter und Tochter besaßen nicht viel, doch es reichte, um über die Runden zu kommen. Liebe und Geborgenheit erfüllten jeden Raum des kleinen Dachgeschossapartments. Jeder, der schon einmal hier gewesen war, hatte gespürt, dass dies ein Ort war, an dem glückliche Menschen lebten.
Als es klingelte, nahm die junge Frau das kleine Mädchen aus dem Hochstuhl und ging mit ihm auf dem Arm zur Tür hinüber. Sie hörte Geräusche draußen auf dem Hausflur und warf mehr aus Neugier einen Blick durch den Spion.
Was sie sah, ließ sie vor Schreck erstarren.
Nein, bitte nicht!
Panik schnürte ihr die Kehle zu. Der Tag, von dem schon ihre Mutter und ihre Großmutter immer gesprochen hatten, war gekommen: Die Monster standen vor ihrer Tür, um sie zu holen.
Sie war nicht dumm. Natürlich wusste sie, dass sie gegen diese Kreaturen der Hölle nichts ausrichten konnte. Ihr Schicksal schien unabwendbar – aber was sollte aus ihrem petit bébé werden? Sie konnte nicht zulassen, dass die Monster es bekamen.
Das kleine Mädchen auf dem Arm der Mutter spürte deren Unruhe. Es verzog das Gesicht und öffnete den Mund, um zu schreien oder zu weinen. Doch die junge Frau legte einen Finger an seine Lippen, schaute das Kind eindringlich an und flüsterte: „Still, mon cœur. Du musst jetzt ganz still sein, hörst du?“ Sie schloss die Augen, strich ihrem kleinen Mädchen mit der flachen Hand über die Stirn und murmelte etwas Unverständliches, woraufhin das Kind sofort einschlief.
Es wurde auch dann nicht wach, als es an der Tür Sturm klingelte. Und auch die junge Frau beachtete den Radau gar nicht. Mit einem traurigen Lächeln ging sie ins angrenzende Schlafzimmer und öffnete den Kleiderschrank. Der Boden besaß ein loses Brett. Darunter befand sich ein Freiraum, groß genug, um ein kleines Kind darin zu verbergen.
Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, legte die junge Frau ihre Tochter in das Versteck. Dann zog sie sich den schmalen goldenen Ring, den sie seit frühester Kindheit trug, vom Finger und legte ihn zu dem Kind, ehe sie das lose Bodenbrett wieder zurück an seinen Platz schob. Sie warf noch einen prüfenden Blick darauf, dann nickte sie zufrieden, stand auf und schloss den Kleiderschrank. Gerade noch rechtzeitig, denn in diesem Moment wurde die Tür aus dem Rahmen geschleudert, und die Monster drangen in ihre Wohnung ein.
Sie wusste, was nun geschehen würde. Sie war darauf vorbereitet – und trotzdem konnte sie nicht die Angst vor dem, was vor ihr lag, unterdrücken. Doch das Wissen, dass ihre Tochter in Sicherheit war, gab ihr Trost. Sie wusste, dass ihre Schwester sich um sie kümmern würde. Das Verhältnis zwischen ihnen mochte in den vergangenen Jahren nicht besonders gut gewesen sein, doch deshalb würde Marie niemals ihre kleine Nichte im Stich lassen.
Der Name ihres Kindes war der letzte klare Gedanke in ihrem Leben, den sie noch fassen konnte.
Der Name ihres Kindes.
Céleste …
7. KAPITEL
Entsetzt riss Céleste die Augen auf. Sie hatte das Gefühl, als würde sie aus einem schrecklichen Albtraum erwachen. Ihr Herz raste, und kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Doch anders als bei einem Traum wollte das Grauen, das von ihr Besitz ergriffen hatte, einfach nicht abebben.
Denn das, was sie da gerade durch Ashs Augen miterlebt hatte, war kein Traum, sondern Realität.
Die Realität ihrer Mutter, Antoinette Corbeau.
Übelkeit überkam Céleste. Sie würgte trocken. Von wegen Verkehrsunfall!
Die ganze Geschichte,
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