Im Bann des Fluchträgers
vorausritten. Sie hatte sich ein weißes Tuch um die Schultern geschlungen.
Sie und ihr schwarzes Pferd waren das einzig Farblose in dieser leuchtenden Umgebung.
»He, Ravin«, sagte sie, als Vaju und das Horjun-Pferd Nase an Nase liefen.
»In deinem grünen Tuch siehst du erst recht aus wie ein Waldmensch – wenn auch wie einer aus Dantar.«
Ravin lächelte. Das schräge Licht fiel golden auf Mel Amies Wange und zeichnete die Narben auf ihrem Gesicht nach, sodass ihre Wange aussah wie die Landkarte des Flusstals, durch das sie so viele Tage geritten waren. Als Mel Amie den Kopf wandte, fing sich das Sonnenlicht in ihren Augen. Katzengleich und goldgrün blickten sie in die seinen.
»Morgen um diese Zeit sind wir vielleicht schon in Dantar«, sagte sie lächelnd.
»Warst du schon einmal am Meer?«, fragte er. Mel Amie lachte schallend.
»Sehe ich so aus, als würde ich gerne am Meer sein? Oder überhaupt nur freiwillig? Nein, Waldmensch Ravin. Genau wie du habe ich mein ganzes Leben zwischen Bäumen und auf Lichtungen verbracht. Und wenn ich auch nur einen Gedanken daran verschwenden würde, dass wir bald den ganzen Ungeheuern im Meer als Mahlzeit vor der Nase herumschwimmen werden, dann, Ravin, hätte ich seit vielen Tagen jeden wachen Augenblick geschrien. Aber ich denke nicht darüber nach.«
Ravin kannte Mel Amies ruppige Art inzwischen zu gut, als dass er erschrocken oder verstimmt gewesen wäre.
»Das ist unser Glück«, sagte er und lachte ebenfalls. Wie unwirklich das Gefühl auch sein mochte, er war erleichtert, dass er noch in der Lage war, zu lachen. Doch es war seltsam, durch ein friedliches Land voller Sonne zu reiten, während Jolon in endlosem Sterben lag und sich über dem Tjärgwald dunkle Wolken zusammenzogen.
»Wohin müssen wir, wenn wir in Dantar sind?«, fragte er.
»Wir gehen in den Südteil der Stadt. Hinter dem Fischmarkt befindet sich eine Gasse am Hafen, die Flut heißt. Dort werden wir sie finden. Ihr Name ist Sumal Baji Santalnik. Sie ist Kapitänin.«
»Sumal Baji Santalnik«, murmelte Ravin. »Kennt Skaardja sie?«
»Dasselbe habe ich sie auch gefragt«, sagte Mel Amie. »Und sie antwortete: »Nein. Ich habe nur die Fähigkeit, ab und zu auf den Korridoren der Zeit zu wandeln. Und hier und da komme ich an einem Wandvorhang vorbei, spähe verbotenerweise hindurch – und entdecke Dinge in einem anderen Zimmer, die von Nutzen sind.«« Sie schüttelte verwundert den Kopf. »Ich hoffe nur, diese Sumal wird uns diese Geschichte glauben und uns nicht einfach einen Tritt in den Hintern geben.«
»Wir haben immer noch genug Skildis, um sie so gut zu bezahlen, dass ihr unsere Geschichte völlig gleichgültig sein wird.«
»Das stimmt, Ravin.«
Am Abend machten sie eine kurze Rast und ritten in der Nacht weiter. Um sie herum zirpten Grillen. Ravin musste auf Vajus Rücken eingenickt sein, denn als Ladros Stimme an sein Ohr drang, glaubte er für einen schreckheißen Augenblick wieder in Skiggas trübes rotes Auge zu blicken. Er hatte sein Messer schon in der Hand, als er gewahr wurde, dass das rötliche Funkeln kein Auge war. Sie standen auf einer Anhöhe, Darians Flamme zitterte zwischen Dondos Vorderhufen. Und unter ihnen erstreckte sich das Meer.
Der rötliche Halbmond, der am Himmel stand, spiegelte sich in tausend blinkenden Reflexen auf den Wellen. Warmer Wind trug ihr Wispern zu ihnen hinüber. Das Meer lag in der Umarmung einer schwarzen Felskette. Und auf der Handfläche des Felsarms lag eine Spur aus funkelnden Lichtpunkten. Bleich wie ein Walskelett zeichneten sich winzige weiße Häuser gegen den Nachthimmel ab.
»Wir sind da«, flüsterte Amina. »Das ist Dantar.«
»Dantar«, wiederholte Ravin. Doch die Erleichterung, die er sich davon erhofft hatte, zu
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