Im Bann des Fluchträgers
doch Amina bedeutete ihm, die anderen nicht zu wecken.
Mit den Fingern zeichnete sie den magischen Bannkreis in die Luft, bedrängt vom Keifen und Murmeln der Hallgespenster. Es waren drei, Ravin sah ihre schemenhaften Umrisse, die sich langsam zurückzogen, doch in der Nähe verharrten. Als die Sonne aufging, waren sie verschwunden.
Die Stimmung war gedrückt. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass die Hallgespenster kein Unheil ankündigen mussten, dass sie überall auftauchen konnten; warum also nicht auch im sonnigen Dantar?
Je näher sie der Stadt kamen, desto öfter sahen sie Gehöfte mit Heuharfen davor, an denen langes, duftendes Gras in der Sonne trocknete. Sie kamen an Brunnen vorbei und schließlich an winzigen Dörfern.
Es war später Nachmittag, als Mel Amie anhielt und erklärte, dass sie und Ladro zu den Dörfern gehen würden um Erkundigungen einzuziehen. Darian bestand darauf, mitzukommen. Die Pferde wollten sie dalassen. Ravin und Amina stimmten zu, beide froh sich ausruhen zu können. Sie blickten den dreien nach, nahmen dann die Pferde am Zügel und suchten nach einem Rastplatz. Links von ihnen erhob sich eine Anhöhe. Vaju witterte und begann schneller zu laufen. Überrascht ließ Ravin die Zügel los, schon stürmten Vaju und Dondo mit Amina auf dem Rücken den Hang hinauf und verschwanden hinter den Felsen.
»Ravin!« Aminas Lachen. »Schnell!«
Er rannte los und kam keuchend oben an. Dort stürzte er so schnell um die Biegung, dass er das weiche, dunkle Gras erst gar nicht bemerkte, auf dem er lief. Farben explodierten vor seinen Augen und der Duft warf ihn beinahe um. Etwa zwanzig riesige Marjulabäume waren es, die gut verborgen zwischen dem Hügel und einer Gruppe von unscheinbaren Bäumen blühten. Die schlanken blutroten Kelche mit den weißen Blätterspitzen neigten sich an den Zweigen zur Erde. Ein schwerer Duft, süß und tausendmal intensiver als das duftende Marjulaholz, umhüllte Ravin. Vaju machte einen langen Hals, um mit ihren Lippen eine Blüte vom Ast zu pflücken. Amina hatte sich im Gras ausgestreckt und lachte. Ravin schloss die Augen, atmete tief durch und fühlte sich beschwingt und getröstet. Eine Weile ließen sie sich schweigend durch das Meer von Duft treiben, das sie umbrandete, bis sie beschlossen Feuer zu machen. Ravin schnitt eine Jalafrucht in Streifen und legte sie auf die Glut. Der Rauch roch würzig.
Aminas Gesicht sah im Abendlicht gespenstisch aus. Als hätte sie Ravins Gedanken erraten, blickte sie ihn an. Ihre Augen funkelten.
»Du machst es schon wieder«, sagte sie mit einem Lächeln. »Du beobachtest mich, als würdest du erwarten, dass ich vor deinen Augen ganz plötzlich zu Staub zerfalle. Ravin, ich werde nicht sterben!«
Beschämt senkte er den Kopf. »Entschuldige«, sagte er leise. »Es ist nur …«
»Ich weiß.« Sie seufzte. »Ich weiß, wie ich aussehe. Trotzdem. Zwei Leben habe ich bereits verloren, aber eines habe ich noch. Und das lasse ich nicht wegen ein bisschen Fieber los.«
Sie nahm sich ein Stück Jalafleisch, pustete, verbrannte sich die Finger und lachte. Ravin angelte sich ebenfalls ein Stück aus der Glut. Das heiße, herbe Fruchtfleisch tat ihm gut. Er kaute langsam und beobachtete Amina dabei, wie sie ein zweites Stück aus dem Feuer zog.
»Was meinst du damit, du hattest zwei Leben?«
»Eins habe ich verspielt und eins im Kampf verloren.«
Ihre Lippen waren rot vom Jalasaft.
»Ich habe mich auf ein Spiel eingelassen. Ich war jung – und wohl auch noch ziemlich dumm. Es war das erste Mal, dass ich ins Tal ging. Da waren einige Händler, die ihre Waren verkauften. Einer war dick und hatte kleine Augen. Er feilschte am geschicktesten. Dass er außerdem noch ein leidenschaftlicher Spieler war,
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