Im Bann des Fluchträgers
eingenickt sein, denn als er die Augen öffnete, stand der Diener vor ihm.
»Herr Ravin!«, sagte er leise. »Die Königin wünscht Euch sofort zu sehen. Ihr müsst Euch beeilen, wir haben nicht viel Zeit!«
Über eine breite, geschwungene Treppe gelangten sie in den Teil der Burg, der nach Ravins Vermutung der Ostflügel sein musste. Endlich, nach einer langen Reihe von einsamen Gängen, betraten sie den belebteren Teil der Burg. Mit einem Mal war Ravin froh das weiße Gewand zu tragen. Der Boden, den sie betraten, war so blank poliert, dass er sich darin spiegelte. In Grüppchen standen Menschen aus verschiedensten Teilen Tjärgs zusammen und unterhielten sich leise. Alle schienen auf eine Audienz zu warten. Die Gesandten aus Lom erkannte Ravin an ihren roten Roben. Am Ende des Raumes warteten die Waldmenschen. Als sie Ravin entdeckten, hoben sie die Hände zum Gruß, den er höflich erwiderte. Diener standen mit großen Mappen unter dem Arm bei den Gesandten, fragten, nickten und trugen die Antworten dann auf Bögen aus teurem Papier ein. Ravin sah auch eine Jägerin aus Tana. Ihr Haar war kurz geschoren, Ornamente waren in die Haut ihres Halses und die Arme gestochen. Sie wartete so bewegungslos, als würde sie nicht atmen, vor einer Säule. Als hätte Ravins Blick sie berührt wie eine Hand, wandte sie plötzlich den Kopf. Graue Augen musterten ihn.
»Hier entlang, Herr Ravin!«
Er riss sich von dem ungewohnten Bild los und ging weiter. Die vielen Menschen beunruhigten ihn. Völler Sorge fragte er sich, ob die Königin für sein Anliegen genug Zeit haben würde – wenn es nicht ohnehin schon zu spät war. An den Gang, der zum Thronsaal führte, erinnerte sich Ravin sehr gut, ebenso an die Holztür mit den wellenförmigen, silbernen Intarsien. Als die Türwächter Ravin und den Diener kommen sahen, griffen sie zu den Klinken, die die Form von Pferdeköpfen hatten, und zogen die schweren Flügel auf.
Ravin zögerte, doch dann nahm er seinen Mut zusam men, holte tief Luft und trat ein. Licht blendete ihn. Ü berwältigt blieb er stehen und sah sich um.
Der Thron war ein Kunstwerk aus Silber und Glas, verziert mit Edelsteinen, die das Licht in ihren Farben reflektierten. Hunderte von flackernden Kerzen ließen den unwirklichen Schein über die Wände und den Teppich aus gefärbter Ranjögwolle tanzen, der durch den Saal reichte. Mit Silberfäden war darin die Geschichte des Tjärglandes eingewebt, beginnend bei dem Kampf um die Steinburg, die einst der erste Herrschersitz gewesen war und heute nur noch als Ruine im Wald stand, bis zu den Tjärgpferden, die die Täler durchwanderten. Königin Ganis und ihr Sohn, der spätere König Gislan, waren dargestellt, ebenso die Lager der Waldmenschen, die vor vielen Generationen aus den Südbergen eingewandert waren.
Die Königin stand an einem der Fenster, die bis zum Boden reichten, und blickte auf den Tjärgwald. Als sie das Räuspern des Dieners hörte, drehte sie sich um und lächelte Ravin zu. Er errötete vor Verlegenheit. Sie war älter, als er sie sich vorgestellt hatte. Ihr langes Haar war noch dunkel, doch an den Schläfen und über der Stirn zogen sich weiße Strähnen durch die Haare, die sie im Nacken verknotet und geflochten trug. Ihr hellgrünes Gewand ließ ihre Haut hell und durchscheinend aussehen. Um ihre Stirn lag ihre Krone, ein dünner Silberreif ohne jeglichen Schmuck. An einem Schwertgurt trug sie das silberne Zierschwert mit den blauen Kristallen aus den Südminen, Zeichen ihrer Königswürde. Jolon hatte ihm erzählt, dass sie noch ein richtiges Schwert besaß, das weniger prächtig, doch viel gefährlicher war. Die Vorstellung verwunderte ihn.
Er senkte den Blick, verbeugte sich, wie man es ihm
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