Im Bann des Mondes
werden bei mir wohnen«, knurrte er fast.
»Bei Ihnen? Machen Sie sich nicht lächerlich.«
Miranda hatte das Gleiche gesagt. Oder doch eher: »Nur über meine Leiche.« Was leider durchaus möglich war, wenn man die Kraft und Geschwindigkeit eines wahnsinnigen Werwolfs in Betracht zog. Er hatte Miranda nur damit von seinem Plan überzeugen können, indem er darauf hinwies, dass der Werwolf wahrscheinlich unter einer ansteckenden Krankheit litt, gegen die Miranda auch mit all ihrer Feuerkraft nichts ausrichten konnte. Anschließend hatte Archer entschieden darauf bestanden, dass Ian für Daisys Sicherheit sorgte. Ein kluger Mann.
Daisy schien allerdings nicht ganz so überzeugt. »Warum um Himmels Willen meinen Sie, Sie könnten mich beschützen?«
Jetzt war der Moment gekommen, vor dem er sich gefürchtet hatte. Denn sie würde die Flucht ergreifen. Und er würde sie jagen.
Ians Griff um ihre Hand wurde fester, damit sie sich ihm nicht entziehen konnte. »Weil er, Schätzchen, das Schlimmste ist, was mich in Zukunft erwarten kann.«
6
Seine Worte hingen in der Luft, während Daisy ihn forschend ansah und versuchte zu begreifen. »Ihre Zukunft?«
Archer war der Letzte gewesen, dem er freiwillig sein wahres Wesen enthüllt hatte. Natürlich gehörte auch Archer nicht unbedingt zu denen, die man als normal bezeichnen würde, wodurch es einfacher gewesen war. Doch wenn Ian alles richtig machen wollte bei Daisys Schutz, musste sie die Wahrheit kennen. Trotzdem fiel es ihm schwer, die Worte auszusprechen.
»Ich trage die gleiche Bestie in mir.« Mit einem stummen Seufzer ließ er sie durch seine Augen einen Blick auf den Wolf in seinem Innern werfen, und er wusste, dass sie das Unmenschliche sehen würde und das ganz und gar Wölfische.
Er war darauf vorbereitet, dass sie vor ihm zurückwich. »Beruhigen Sie sich«, sagte er, als sie versuchte, ihre Hand wegzureißen. Ihr Stuhl quietschte, als er sie näher an sich heranzog.
Ein paar Männer blickten in ihre Richtung, aber Ian bedachte sie mit einem warnenden Blick, ehe er sich wieder Daisy zuwandte. »Hören Sie auf, Daisy«, flüsterte er.
Ihr Atem streifte heiß und voller Angst sein Gesicht. »Sie … Sie sind ein Werwolf«, zischte sie. Daisys Pulsschlag glich einem Trommelfeuer unter seinen Fingerspitzen. Er kämpfte gegen den Drang, über ihr Handgelenk zu streichen.
»Nein«, erwiderte er mit leiser Stimme. »Aber ich könnte einer werden.«
»Erwarten Sie etwa von mir, dass ich den Unterschied sehe?«
»Das ist ein großer Unterschied. Und ich werde ihn Ihnen erklären, wenn Sie sich beruhigen.«
Der Geruch von Schweiß und Bier hing zum Schneiden dick in der Luft. Er konnte das Herz in ihrer Brust schlagen hören. Aber sie hörte auf sich zu wehren. Als ihr Puls sich beruhigte, sah er sie forschend an. »Alles in Ordnung?«
Sie sah ihn finster an, nickte aber kurz.
»Sie werden nicht weglaufen?«
Daisy schnaubte. »Kommen Sie endlich zur Sache, Northrup.«
Was für eine reizende Frau. Er rückte näher, sodass nur sie ihn hören konnte. »Was Sie begreifen müssen, ist, dass ein Lykaner …«
»Lykaner? Was ist das?«
»Wenn Sie mich ausreden lassen würden …«
»Das ist eine wichtige Frage.«
Eins. Zwei. Drei. Er öffnete die Augen und richtete den Blick auf die kleine Falte zwischen ihren Augenbrauen.
»Lykaner ist die Bezeichnung, die wir für uns selbst benutzen. Sie geht zurück auf das griechische Wort lycos, was ›Wolf‹ bedeutet, und die Sage von Lykaon, dem arkadischen König, der Zeus gebratenes Menschenfleisch vorsetzte. Zur Strafe verwandelte der wütende Zeus ihn in einen Wolf.«
»Wie grauenvoll«, murmelte Daisy mit vor Abscheu nach unten gezogenen Mundwinkeln.
Er konnte das Lächeln, das um seine Lippen zuckte, nicht unterdrücken. »Ziemlich.«
»Aber warum bezeichnen Sie und Ihresgleichen sich nicht einfach als Werwölfe?«, fragte sie, während sie die Unterarme vor sich auf den Tisch stützte, sodass ihr Busen eine entzückende Stütze erhielt.
Nein. Sieh nicht hin.
»Weil ein Unterschied besteht. Ein Lykaner«, erklärte er und wurde lauter, weil die Frau doch tatsächlich schon wieder den Mund öffnete – was für ein neugieriges Etwas sie doch war –, »hat sich unter Kontrolle. Er verwandelt sich nach Belieben.«
»Dann sind also all diese Geschichten über Vollmond und so …«
Er lachte kurz auf. »… völlig ohne Bedeutung für uns. Allerdings verstärkt der Mond unsere Kraft. Je heller er
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