Im Bann des Mondes
strahlt, desto stärker sind wir. Und bei Neumond, wenn nicht ein einziger Silberstreif am Himmel ist, sind wir am schwächsten.«
»Warum? Was hat der Mondschein an sich, dass er Ihnen Kraft verleiht?«
»Ich weiß es nicht.«
Sie wirkte plötzlich wie ein Kind, dem man nicht die Antwort gegeben hatte, die es haben wollte, und ein seltsamer Schmerz breitete sich in seiner Brust aus.
Ian wollte verdammt sein, wenn sie ihn nicht an sich selbst erinnerte. Ehe er sein Herz verloren hatte. Als er das Leben noch mit unbekümmerter Hingabe und voller Neugier angegangen war. Doch ihr Blick war getrübt, als würde etwas ihre natürliche Lebhaftigkeit abtöten … wie Frost, der durch frisches Frühlingsgrün kroch. Als würde auch sie langsam den Kampf aufgeben. Er merkte, dass er diesen Ausdruck in ihren Augen vertreiben wollte, um vielleicht das in ihr zu bewahren, was er sich selbst nicht hatte erhalten können.
Fast hätte er gelacht. Ian war kein Retter, und das erwartete auch keiner von ihm. Er schüttelte solch abstruse Gedanken ab und bedachte sie mit seinem strengsten Blick.
»Hören Sie … wir wissen nicht, wie wir zu unserer Existenz gekommen sind, warum wir dieses endlose Leben führen und woher wir gekommen sind. Darüber kann man nur spekulieren. Aber das Wahrscheinlichste, was sich unsere Ältesten vorstellen können, hat etwas mit Reinkarnation zu tun. Wir sind einmal Wölfe gewesen. Über viele Leben hinweg entwickelte sich unser Geist und wir wurden zu Menschen, aber der Geist des Wolfs lebte weiter. Man muss es sich vielleicht wie eine geteilte Seele vorstellen.«
»Zwei Seelen in einem Körper?«
»Genau. Aber Wolf und Mensch hadern miteinander.« Flehend spreizte er die Hände. »Der Mensch will alles unter Kontrolle haben, ebenso der Wolf. Ein Lykaner ist ein Wesen, bei dem die Seele des Menschen alles unter Kontrolle hat, doch die Seele des Wolfs verändert ihn so, dass ein Unsterblicher erschaffen wird, der in der Lage ist, sich der Kraft beider Daseinsformen zu bedienen. Der Mensch kann den Wolf heraufbeschwören und sich in ein Mischwesen aus Wolf und Mensch verwandeln, das über mehr Kraft und Schnelligkeit verfügt. Aber der Mensch ist stets derjenige, der das Sagen hat.«
Mit einem leisen Schnauben ließ sie sich nach hinten gegen die Rückenlehne sinken. »Das scheint mir dem Wolf gegenüber, der in Ihnen gefangen ist, nicht ganz fair. Bestimmt will er doch auch mal an die Sonne?«
Sein Tier winselte zustimmend, und Ian versetzte ihm einen Stoß. Unbehagen und Zorn sorgten für einen inneren Aufruhr. »Ginge es nach dem Wolf, würde es zu einer vollständigen und dauerhaften Verwandlung zum Tier kommen. Die Seele des Menschen löste sich irgendwann auf.«
»Wie können Sie sich da so sicher sein?«
»Weil«, zischte er, »es immer so gewesen ist. Haben Sie überhaupt eine Vorstellung davon, wie viele meiner Brüder ich dem Wolf habe zum Opfer fallen sehen? Keiner ist zurückgekehrt.«
»Vielleicht weil der Wolf um sein Recht auf Freiheit kämpfen muss. Käme jeder Mal an die Reihe …« Sein Wolf ging in ihm auf und ab, sodass seine Knochen schmerzten, und blickte bestimmt auch aus seinem Gesicht, denn Daisy wurde sichtbar blasser. Sie schloss den Mund.
Er nahm einen Schluck von ihrem Ale und spürte, dass die Reißzähne, die hatten vortreten wollen, sich wieder zurückbildeten. »Meinen Sie wirklich, dass es einen Menschen gibt, der bereit ist, seine Seele aufs Spiel zu setzen, um die Großzügigkeit seines Wolfs auf die Probe zu stellen, indem er eine vollständige Verwandlung zulässt?«
»Nein.« Sie fuhr mit ihrem Nagel eine Kerbe im Holz nach. »Wohl eher nicht.«
»Ich gebe ihm, was ich kann«, erklärte Ian. »Ich lasse ihn jede Nacht lange und weit laufen.« Sein Gewissen und sein Wolf schalten ihn, weil das so nicht stimmte, sondern erst in letzter Zeit passiert war. Ian verdrängte seine Schuldgefühle. »Es ist unerlässlich, dass ich die Kontrolle behalte.«
Sie schien sich jetzt nicht mehr zu fürchten, sondern wirkte eher neugierig. »Und wenn Sie die Kontrolle verlieren, ist das der Werwolf, von dem Sie sprechen?«
»Ja. Dann übernimmt der Wolf die Führung, aber es ist kein normaler Wolf. Er ist größer, viel größer. Sein Kopf reicht bis zu meiner Schulter.«
Daisy bekam große Augen. »Ja, genau.«
»Aber er ist innerlich gebrochen. Wut und Unberechenbarkeit beherrschen ihn. Ein Werwolf tötet häufig aus einem Zwang heraus.« Ian senkte den Kopf.
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