Im Bann des Mondes
und den Willen seiner Vorfahren. Um mit ihrer Imposanz zu beeindrucken, waren schon in frühen Zeiten Wände und Böden mit Onyx ausgekleidet worden, wodurch der Eindruck großer, schwarzer Leere erzeugt wurde, in der nur der goldene Thron am anderen Ende des Saales hell strahlte.
Sein Vater hatte dort gesessen, um die Angelegenheiten des Clans zu regeln. Sein Vater hatte erwartet, dass auch Ian eines Tages auf diesem Thron Platz nehmen würde. Jetzt saß Conall da und beobachtete aufmerksam, wie Ian näherkam. Conall war es gewöhnt gewesen, seinem älteren Bruder auf Schritt und Tritt zu folgen, um dessen Aufmerksamkeit zu erlangen, ja, um darum zu flehen. Ian hatte ihm das Kämpfen beigebracht und versucht, ihm die Bedeutung von Ehre und Gerechtigkeit nahezubringen. Doch irgendwo hatte er dabei versagt, denn die Berichte der Lykaner, die geflüchtet und von Lena zu ihm geschickt worden waren, zeichneten ein düsteres Bild von Tyrannei, Gier und schlechter Verwaltung.
Schlimmer noch! Wenn die Gerüchte stimmten, hatte Conall sich auch mit menschlichen Verbrecherbanden aus der Innenstadt Londons zusammengeschlossen und es jetzt auf die Schwachen und Bedürftigen abgesehen.
Ian unterdrückte ein angeekeltes Schnauben, als er vor der Empore stehen blieb. Conall lümmelte auf dem Thron, als wäre es ein Bett. Das eine Bein hing über der Armlehne, der Stiefel schwang träge hin und her. Ja, sein Bruder war stark. Daran bestand kein Zweifel. Auch die perfekt geschnittene Kleidung konnte seinen muskelbepackten Körper nicht verbergen. Und bei ihm gab es kein Zögern. Aber besaß er den nötigen starken Willen? Das würde Ian schon bald herausfinden.
Tu, was richtig ist. Übernimm die Führung über deinen Clan.
Sein Clan. Der Gedanke war wie verführerischer Rauch, der in seinen Adern raunte und über seine Haut kroch. Er hatte alles verloren wegen seines lykanischen Erbes. Und jetzt war er wieder an den Ausgangspunkt zurückgekehrt.
Conall schenkte ihm ein dünnes Lächeln und musterte ihn abwägend. »So kehrt nun also der verlorene Sohn zurück.« Er zog die dunklen Brauen zusammen. »Nachdem er in Highgate offensichtlich Amok gelaufen ist.«
Ian hätte beinahe geschnaubt. So wollte Conall das also bezeichnen? Und was war mit dem Werwolf? Ian wollte Antworten, aber er musste vorsichtig sein. Daisys Duft wehte von hinten heran. Er ignorierte ihn. Ihm entglitt die Kontrolle viel zu leicht, wenn es um sie ging. Verdammt, aber er hasste es, dass das, was ihn schwächte, so nah war. Wenn er seine Möglichkeiten erwog, stellte er fest, dass er Conall gerade so weit reizen musste, dass dieser ihn für gleichgültig hielt, aber ihn keinesfalls provozierte. Na, wunderbar.
»Conall«, sagte er grüßend.
Sein Bruder knurrte. Im nächsten Moment stand er vor Ian und legte seine Hand um dessen Hals. »Wie bitte?«
Krallen bohrten sich in die Haut. Daisys leises, bekümmertes Aufstöhnen, das sie noch versuchte zu unterdrücken, hielt ihn davon ab, die Antwort zu geben, die ihm auf der Zunge lag.
Ganz ruhig, Süße
. Ian sah seinem Bruder in die Augen. »Ranulf«, korrigierte er sich mit gespielter Ruhe.
Spitze Zähne blitzten auf, als Conall lächelte. »Schon besser.« Er schüttelte Ian noch einmal, ehe er ihn losließ.
Ian stand aufrecht da.
Conall ging um ihn herum. »Warum lungerst du in meinem Revier herum und bringst Unruhe hinein, Bruder?«
Ian warf ihm einen schnellen Blick zu. Dachte Conall etwa, er würde sich jetzt entschuldigen? »Ich suche nach dem vom Wahnsinn befallenen Werwolf,
Bruder
.«
»Ach ja, dieser legendäre Werwolf, von dem meine Männer nicht mal eine Spur gefunden haben.«
Ian gab ein freudloses Schnauben von sich. »Was habt ihr denn dann gestern Abend in Gewahrsam genommen?«
Conall blieb stehen. Er hob die dunklen Brauen zu einer Miene, die Ians stark ähnelte. »Ich habe gar nichts in Gewahrsam genommen. Allerdings habe ich gehört, dass mein Bruder mit dem Angriff von zwei ›wilden Hunden‹ in Verbindung gebracht wird.«
Einen kurzen Moment lang konnte Ian nicht antworten. Er war wie erstarrt, denn damit hatte er nicht gerechnet – dass Conall es leugnen würde und der Werwolf bei ihm war. Das ergab keinen Sinn. Schlimmer noch. In der Stimme seines Bruders schwang etwas mit, das ihn zögern ließ. Sie hatten sich so sehr auseinandergelebt, dass er nicht mehr in der Lage war zu erkennen, ob Conall log oder nicht. Und das beunruhigte ihn sehr.
»Versuchst du mir zu sagen, dass
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