Im Bann des Nebels, 2, Der ewige Bund (German Edition)
machen. Aber es war bloß ein Schmuckstück, ein toter Gegenstand, es konnte keinen eigenen Willen haben – oder? Es konnte höchstens dem Willen eines anderen gehorchen. Und Philipps dringendster Wunsch in diesem Moment war es, diesem anderen – wer es auch war – einen ordentlichen Kinnhaken zu verpassen.
Er schloss die Tür auf und ließ »Sonja zwei« eintreten. Leichtfüßig lief sie die Treppe hinauf, und er folgte ihr langsamer. Sosehr er es auch versuchte, er konnte zu die s en Kreaturen keine freundlichen Gefühle aufbauen. Er misstraute ihnen zutiefst – egal, welch nützliche Helferinnen sie Asariés Meinung nach sein sollten. Auf der ganzen Fahrt hatte er kein Wort mit ihnen gewechselt. Und anders als »Sonja eins« und »Melanie eins« hatten sie auch nicht miteinander gesprochen, solange ihre Rolle es ihnen nicht befahl. Wahrscheinlich würden sie erst vor Zeugen zu wirklichem Leben erwachen – wie Marionetten. Philipp wünschte inständig, er wäre sie schon wieder los.
Aber er war ungerecht, sagte er sich selbst. Asarié hatte die Dinge nur vereinfachen wollen.
»Sonja zwei« wartete vor der Wohnungstür auf ihn. Sie hatte ihre Winterstiefel schon ausgezogen und sah mit den dünnen Beinen und bestrumpften Füßen in dem dicken Wintermantel erbarmungswürdig dünn aus. Philipp ließ seine Stiefel neben das Regal fallen und schloss die Wohnungstür auf.
Es war unheimlich still.
Unheimlich deswegen, weil alle Mäntel, Jacken und Stiefel der Familie Berger vollzählig versammelt waren. In anderen Familien mochte Stille üblich sein, wenn mehr als ein Mitglied zu Hause war. Bei Bergers war so etwas – »aus technischen Gründen«, wie Vater Berger zu sagen pflegte – nicht möglich.
Alle waren zu Hause, und alle waren still.
Dann hörte Philipp eine tiefe Männerstimme aus dem Wohnzimmer.
»Also, Frau Berger. Sie sagen, Ihre Tochter ist mitten in der Nacht aus ihrem Zimmer verschwunden. Bekleidet war sie mit einer blauen Jeanshose, einem dunkelblauen Wollpullover, gelbrot geringelten Socken –«
Polizei.
P hilipp biss die Zähne zusammen und stieß die Wohnzimmertür auf, und mit der Stille war es vorbei.
»Sonja!«, kreischte Mama, sprang auf und riss ihre verlorene Tochter an sich. Papa brüllte: »Philipp, wo seid ihr gewesen? Wisst ihr eigentlich, was wir uns für Sorgen gemacht haben?«
»War doch klar«, sagte Corinna angewidert. »Alles nur Theater.« Paul nutzte die Gelegenheit, um sein Räubergeheul anzubringen, und inmitten dieser rührenden Szene klappte der Polizist sein Notizbuch zu, steckte seinen Stift ein und verabschiedete sich. Corinna begleitete ihn zur Tür.
Als das Geschrei auf normale Lautstärke gesunken war, erzählte Philipp die Geschichte, die er den Wechselbälgern in Asariés Haus eingetrichtert hatte: Er war auf glattem Eis ausgerutscht und hatte sich eine Rippe angeknackst, Melanie hatte einen Krankenwagen gerufen, und Sonja hatte ihn gesucht, hatte von Melanie erfahren, dass er einen Unfall gehabt hatte, war über Nacht bei ihm im Krankenhaus geblieben und hatte in ihrer Aufregung vergessen, zu Hause anzurufen. Alles ganz einfach, kein Grund zur Sorge, und jetzt wollte er schlafen.
Ein Blick in sein Gesicht schien Mama und Papa davon zu überzeugen, dass es ihm wirklich schlecht ging. Er wehrte alle Versuche seiner Mutter ab, den Rippenverband zu untersuchen, nützliche Medikamente zu empfehlen und ihm heißen Tee ans Krankenlager zu bringen, und flüchtete in sein Zimmer. »Sonja zwei« brachte ihren großen Auftritt auch ohne seine Hilfe routiniert hinter sich, wurde ausgeschimpft, heulte ein bisschen und wurde mit einem Becher heißer Milch mit Honig ins Bett gebracht. Danach wandte sich die elterliche Aufmerksamkeit Paul zu, der a uch heiße Milch haben wollte, seine wissenschaftliche Neugier jedoch nicht zügeln konnte und dem Topf fasziniert beim Überkochen zuschaute. Aber zu diesem Zeitpunkt schlief Philipp schon wie ein Stein. Das Wolfskopfamulett hielt er fest in der Hand.
Ein Geräusch weckte ihn. Es klang leise, unterdrückt, wie ein Schluchzen. Er öffnete die Augen. In seinem Zimmer war es dunkel, der elektronische Wecker zeigte Viertel nach zwölf. Die Flugzeugmodelle warfen vertraute Schatten an die Wände … aber da war das Schluchzen wieder. Langsam drehte er den Kopf und sah Corinna an der Tür stehen. Sie trug einen dunklen Schlafanzug und presste die Hand gegen den Mund, als wolle sie um jeden Preis ein lautes Geräusch vermeiden.
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