Im Bann des Nebels, 2, Der ewige Bund (German Edition)
einer Ecke r ieselten Tannennadeln vom vertrocknenden Weihnachtsbaum. Der Frühstückstisch war – um halb elf! – noch immer nicht abgeräumt, und statt sich nützlich zu machen, lag Sonjas ältere Schwester Corinna auf dem Sofa und blätterte in einer Zeitschrift, während der kleine Bruder Paul seine neue Modelleisenbahn so im Wohnzimmer aufgebaut hatte, dass man nirgendwohin gehen konnte, ohne auf die Schienen zu treten. Paul selber war aus seinem Zimmer zu hören, wo er wieder mal irgendwelche Dinge explodieren ließ. Melanie sah zu, wie ihre Mutter sich umschaute, und spürte geradezu, wie sie diese Wohnung mit der gepflegten, stilvollen Einrichtung ihres eigenen Hauses verglich. Ein »Ambiente« wie zu Hause war das hier ganz bestimmt nicht.
»Setzen Sie sich doch«, sagte Sonjas Mutter, und Melanie fiel auf, wie übernächtigt sie aussah. »Möchten Sie einen Kaffee? Melanie, einen Kakao?«
»Nein, danke«, sagte Frau Vittori steif, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Ich möchte nur Klarheit in diese unselige Angelegenheit bringen. Melanie hat mir einen Haufen Unsinn über eine Brücke erzählt, über Tiere, die es nicht gibt –«
»Ein Einhorn, Mama.«
»– was selbstverständlich völliger Unfug ist. Ich möchte mit Sonja sprechen – sie hat das doch wohl alles ausgelöst, soweit ich es verstehe.«
»Sonja –«, begann Frau Berger, aber Corinna ließ ihre Zeitschrift sinken und unterbrach sie. »Sonja ist nicht da, Frau Vittori. Sie haben sich völlig umsonst in die Slums der Unterschicht begeben.«
»Corinna!«, sagte Frau Berger scharf, während Melanies Mutter vor Ärger ganz rot wurde. »Lass das! Frau Vittori, S onja ist – nicht da.« Sie rieb sich die Augen. »Seit gestern. Und Philipp hat uns auch nur wirres Zeug erzählt –«
»Wo ist er denn?«, fragte Melanie zaghaft.
»Auf der Polizeiwache. Da ist wohl jemand verhaftet worden, der uns vielleicht helfen kann. So habe ich ihn verstanden. Aber –«
»Er sollte vielleicht mal aufhören, sich mit Kriminellen abzugeben«, sagte Frau Vittori spitz.
»Mama!«, unterbrach Melanie sie empört. »Ben ist nicht kriminell!«
»Nun, wenn er verhaftet wurde, wird es ja wohl einen Grund haben!«
»Aber er wurde ja gar nicht verhaftet«, sagte eine ruhige Stimme vom Flur her, und Ben trat ein, gefolgt von einem grinsenden Philipp. Alle starrten ihn entgeistert an. Melanie hatte nie zuvor gemerkt, wie groß Ben eigentlich war; er musste sich sogar ein wenig ducken, um nicht an der oberen Türkante anzustoßen. Und er war geradezu sagenhaft schwarz, wie ein Schatten, der alles Licht verschluckte; nur seine Augen und Zähne leuchteten, als er Melanie anlächelte. Er trug noch immer dieselben Kleider wie gestern: Reitstiefel, Reithose und einen dunklen Pullover. Offenbar waren er und Philipp sofort hierhergefahren. Er nickte Frau Berger, Frau Vittori und Corinna freundlich zu und wandte sich dann sofort an Melanie. »Hast du das Buch in Sicherheit gebracht?«
»Ich hab’s zu Hause.«
»Sehr gut«, sagte Ben. »Dann können wir –«
»Warten Sie!« Die Stimme von Sonjas Mutter klang ziemlich schrill. »Was ist mit meiner Tochter? Wo ist Sonja? Philipp, du hast mir gesagt, dass ihr auf diesem Hof nichts passieren kann!«
» Das war, bevor uns irgendein Mistkerl die Polizei auf den Hals gehetzt hat«, sagte Philipp finster. »Sonja hat Angst bekommen und ist weggeritten. Wir finden sie schon.«
»Frau Berger«, sagte Ben, »ich schwöre Ihnen, ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, damit Sie Ihre Tochter heil zurückbekommen. Aber nicht hier. Melanie, Philipp, kommt.« Und er wandte sich zum Gehen.
»Was?«, schrie Sonjas Mutter. »Ist das alles? Ich will augenblicklich wissen, wo meine Tochter ist!«
Und Frau Vittori fuhr von ihrem Stuhl hoch. »Nein! Melanie, du bleibst hier! Rühren Sie mein Kind nicht an!«
Melanie schaute ihre Mutter verblüfft an. So einen Gefühlsausbruch kannte sie von ihr gar nicht. Ben runzelte die Stirn, und Philipp sagte leise: »Mach irgendwas, Ben. Wie bei der Polizei. Sonst kommen wir hier nie weg.«
Ben nickte. Er sah beinahe ein wenig traurig aus, als er die Hand hob und eine wischende Geste machte. »Vergesst es«, sagte er ganz sanft. »Habt keine Angst.«
Melanies Mutter setzte sich wieder auf den Stuhl. »Ich …« Sie verstummte, und ihr Blick wurde ganz leer und verschwommen. »Ich … glaube, ich hätte gerne einen Kaffee.«
»Mit Milch und Zucker?«, fragte Sonjas
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