Im Bann des Nebels, 2, Der ewige Bund (German Edition)
nicht.
Also machte sie sich auf den Weg und schaute sich immer wieder um, aber nichts regte sich in dem weiten Tal außer dem Wind über dem Gras und den Birjaks, die so gelassen und majestätisch weiterzogen wie die Wolken am Himmel.
Auf ihrem Weg zum See kam sie an einigen großen Felsbrocken vorbei und beobachtete sie halb ängstlich und halb erwartungsvoll. Ob das alles Trolle waren? Beobachteten sie sie? Oder träumten sie nur im Sonnenlicht und nahmen das winzige Menschengewusel überhaupt nicht wahr? Oder bewegten sie sich, so langsam, dass ein Mensch die Bewegung nicht erkennen konnte? Reglos und schrundig lagen sie da und blieben ungeformter Stein, und mit leiser Enttäuschung wanderte Sonja weiter.
G anz allein war sie aber doch nicht. Violette Frösche hüpften vor ihr durchs Gras und platschten irgendwo in der Nähe ins Wasser, seltsame, riesige Libellen schwirrten wie kleine Hubschrauber durch die Luft, überall zwitscherten Vögel. Einmal sah sie ein handgroßes Geschöpf, das aus mehreren grünen Flügeln zu bestehen schien und ein Geräusch von sich gab, das wie ein Kichern klang. Aber als sie stehen blieb, um es genauer anzuschauen, flatterte es davon.
Dann entdeckte sie das Zelt.
Es stand in einer Senke hinter einer kleinen Anhöhe, sodass sie es erst bemerkte, als sie fast hineinlief. Erschrocken zuckte sie zurück und duckte sich ins hohe Gras, wobei sie sich wie eine Indianerin fühlte, die sich an den Feind anschlich. Aber wenn dort wirklich ein Feind war, hatte sie schlechte Karten.
Vorsichtig schob sie sich ein wenig näher an das Zelt heran und hob ein wenig den Kopf, um es besser sehen zu können.
Es war eigentlich kein richtiges Zelt, jedenfalls keins, das sie zum Campen benutzt hätte. Es war nur eine dunkelgraue, grobe Sackleinwand, die über ein paar schräg in den Boden gerammte Holzstäbe gespannt war. Vorne und hinten war es offen. Vor dem Zelt zeigte ein Kreis aus kleinen Steinen und verbranntem Holz, dass hier einmal ein Lagerfeuer gebrannt hatte. Aber niemand war zu sehen. Und je länger Sonja das Zelt anschaute, desto deutlicher sah sie, dass es schon eine ganze Weile hier stehen musste. Die Plane war brüchig und verwittert, an den unteren Rändern mit Moos bewachsen und grünlich verfärbt. Ringsherum wucherte das Gras; hier war schon lange niemand mehr umhergelaufen.
S onja stand auf und näherte sich vorsichtig dem Zelt. Vielleicht waren Spinnen oder Schlangen darin – was wusste sie schon, welche Tiere es hier gab?
Sie trat noch ein paar Schritte näher, bis sie ins Innere des Zeltes sehen konnte. Dort lagen eine halb verrottete Matte und die Überreste einer Decke. Und noch etwas – eine Tasche aus Leder. Zumindest vermutete Sonja, dass es einmal Leder gewesen war. Jetzt war es grau, verschimmelt und vermodert und sah aus, als hätte es jahrelang in einem dunklen, feuchten Keller gelegen.
Sonja kroch in das Zelt, fasste die Tasche mit spitzen Fingern an und zog sie nach draußen. Wo die Tasche gelegen hatte, blieb ein Fleck dunkler Erde zurück, von dem Asseln und Spinnen ins Gras flüchteten.
Mit ihrer Beute zog Sonja sich von dem Zelt zurück. Die Tasche roch ekelhaft, war aber früher einmal sehr schön gewesen – dunkles, weiches Leder, auf das winzige Holzperlen gestickt waren. Das Muster war jedoch kaum noch zu erkennen. Die Tasche war mit einem Lederband verschnürt, das sich nicht mehr aufknoten ließ. Kurzerhand zog Sonja ihr Messer und schnitt das Band durch. Dann drehte sie die Tasche um und schüttete den Inhalt ins Gras.
Drei dicke Asseln fielen heraus und wuselten davon. Sonja zuckte zurück, aber dann wurde ihr Blick von dem gefangen, was außer den Asseln noch herausgefallen war.
Es war ein Stein. Er war etwa fingerlang, weißlich durchsichtig und hatte acht Seiten, die alle glatt geschliffen waren. Es war ein Kristall, so ähnlich wie die Kristalle, die Sonja erst vor wenigen Wochen an einem Stand auf dem Weihnachtsmarkt gesehen hatte. Hübsch, aber nichts Besonderes. Sonja freute sich trotzdem und steckte ihn in die Hosentasche.
J etzt hatte sie aber wirklich Durst. Der See war nur hundert Meter entfernt. Inzwischen stand die Sonne ein ganzes Stück tiefer als vorher. Das Wasser glitzerte und gleißte wie eine Straße aus Silber, und Sonjas Augen schmerzten, als sie hinschaute.
Sie machte sich auf den Weg.
Die letzten Meter zum See waren schlammig, und sie war froh, dass sie ihre Reitstiefel anhatte, während sie durch das Gras stapfte.
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