Im Bann des Nekromanten: Die Chroniken des Beschwörers - 1. Roman (German Edition)
das – meistens – reichte, um das Bewusstsein des ständigen Kreislaufs von Geburt und Tod in der Welt ringsum von ihm fernzuhalten. In dem Maße, wie Tris die Kontrolle darüber gewann, den Tod wahrzunehmen, wurde er besser darin, die endlose Prozession der verlorenen Seelen auszublenden, die ihn aufsuchten, manche, weil sie Frieden wollten, andere nur, weil sie von seiner Macht angezogen wurden wie Motten vom Licht. Durch Ausprobieren wurde er Experte für einfache Bannsprüche und lange überfällige Rituale des ›Hinübergehens‹. Der ruhelosen Gespenster, die seine Hilfe suchten, schien kein Ende zu sein, und er wusste, dass er ihnen nicht allen helfen konnte, ohne sich selbst völlig zu verausgaben.
Das passiert also, wenn es mehr als fünf Jahre lang keinen Seelenrufer gegeben hat. Seit dem Tod seiner Großmutter hatte es hierzulande keinen Geistermagier mehr gegeben, der die Toten mit den Lebenden hätte aussöhnen, den Segen der Verstorbenen erbitten oder die Geister auf ihren Weg schicken können. Auch war kein Fürsprecher da gewesen, der alte Missstände in Ordnung bringen konnte, von denen Seelen an diese Welt gebunden wurden. Der Göttin sei Dank, dass nicht jede Seele Hilfe beim Hinübergehen benötigt!
Der Traum war nicht mehr gekommen seit jener Nacht, in der er Carina aufgesucht hatte, auch wenn die Erinnerung daran ihn nie verließ und Kaits klagende Stimme ständig in seinen Gedanken widerhallte. Nachdem beim letzten Mal die unbekannte Macht nach Tris gegriffen hatte, wollten Carina und Alyzza kein weiteres Sehen riskieren, doch Tris konnte es nicht dabei bewenden lassen. Heute Nacht, dachte er grimmig, würde er noch einmal versuchen, über die Barriere hinwegzureichen, von der Kait gefangen gehalten wurde, noch einmal versuchen, Kait zu sich zu holen und ihr Leiden zu beenden.
Gewohnheitsmäßig errichtete er einen Kreis um sich für das Wirken. Als die Abwehren vollständig waren, schloss er die Augen und streckte seine Sinne auf der Geisterebene aus. Kaity, bist du da?
Das Bild kam so plötzlich, dass es ihn durchrüttelte: Kaits Gesicht, gegen die Barriere gepresst, ihre Schreie erstickt von einer dicken Scheibe, die Verzweiflung unverkennbar in ihren Augen. Tris, hilf mir!
Bevor Tris reagieren konnte, senkte sich Dunkelheit um ihn herum, löschte Kaits Gesicht aus und brachte ihre Schreie zum Verstummen. Obwohl die Dunkelheit keinen Laut von sich gab, erkannte Tris sie augenblicklich, wusste sofort, dass sie das stumme Böse war, das ihn beim Sehen gesucht hatte, und kämpfte mit aller Kraft darum, sich zurückzuziehen. Immer schneller strömte die Dunkelheit um ihn herum zusammen, sodass er ihre Kälte und ihre Boshaftigkeit spüren konnte. Er handelte mittlerweile rein instinktiv, rannte im Geist los, versuchte verzweifelt die Dunkelheit, die sich ihm an die Fersen geheftet hatte, abzuhängen, überwältigt von einer primordialen Furcht, die mit Worten nicht zu fassen war. Seine Macht fühlte sich weit offen an, all seine Sinne waren in höchster Alarmbereitschaft. Tris’ Konzentration wurde gestört, als eine Waldmaus vorbeirannte, die von einem Falken verfolgt wurde. Mit einem Ruck fühlte Tris nach dem Geist der Maus, ihrem rasenden Puls und dem winzigen Lebensfunken in ihr.
Der Falke visierte seine Jagdbeute an und ließ sich mit einem schrillen Schrei und rauschenden Flügeln vom Himmel fallen. Tris spürte die Panik der Maus wie einen Schock in seinen Eingeweiden und fiel fast nach hinten, als er mitfühlte, wie die Krallen des Falken zupackten. Mit rasendem Herzen kämpfte Tris darum, den Kontakt zu unterbrechen, bevor das Entsetzen der Maus ihn über alle Vernunft hinaus bewegte. Allzu deutlich nahm er die Angst des Nagers wahr, als der Falke sich höher schwang, den schrecklichen Griff und den plötzlichen, scharfen Schmerz, als die Krallen sich in das Fleisch der Maus gruben. Dann, mit demselben Empfinden des ruckartigen Zerrens, das er schon beim Überfall auf die Karawane erlebt hatte, fühlte Tris, wie der Geist des kleinen Geschöpfes sich zitternd löste und flackernd erlosch.
»Nein!« Das Wort entrang sich seiner Kehle, tief und rau, ein Heulen mehr als der Schrei einer vernunftbegabten Kreatur. Erschrocken ließ der Falke die tote Maus fallen, gleichzeitig spürte Tris, wie seine Macht unaufgefordert ausschnellte. Er sah das Tier auf dem Boden aufprallen und reglos daliegen, und dann, zu seiner Verwunderung, sah er, wie der geschundene Körper zu zucken
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