Im Bann des roten Mondes
nicht mehr am Leben.«
»Was meinen Sie mit denen ?«, wollte Désirée wissen. »Handelt es sich etwa um die Tuareg?«
Madame bekreuzigte sich und murmelte ein Stoßgebet, während Monsieur finster dreinblickte. »Der Teufel soll sie holen! Sie entziehen sich unserer kolonialen Fürsorge, ja nicht einmal die Araber konnten sie in die Knie zwingen.«
»Was wissen Sie über diese Leute?«
»Genug, um Sie zu warnen. Stellen Sie sich vor, die halten sich ihre eigenen Sklaven! So etwas Barbarisches!«
»Woher wollen Sie das wissen, wenn Sie selbst nie dort waren?«
»Dazu brauche ich nicht dort gewesen zu sein. Die Leute erzählen genug, dass es ein Graus ist. Sie haben rote Schwerter und schlagen allen Gefangenen den Kopf ab. Sie verbergen ihre Fratze hinter blauen Tüchern, und wahrscheinlich fressen sie die unglücklichen Opfer danach auf.«
»Davon habe ich überhaupt noch nichts gehört«, rief Désirée verwundert. »Es sind Kannibalen?«
»Wovon sonst sollen Sie sich ernähren?«, fragte Monsieur Chabrol zurück. »In der Wüste gibt es nichts, nur Sand und Stein. Und sie überfallen die Karawanen, rauben sie aus, töten die Kameltreiber und ... na ja, Sie wissen schon.«
Ein wenig verwirrt schwieg Désirée. Manches von dem, was Monsieur Chabrol erzählte, wusste sie schon. Dieses rote Schwert hatte sie selbst im Museum gesehen. Aber das jetzt war ihr neu. Ob es wirklich solche Unmenschen waren? Dann bestand allerdings wenig Hoffnung, ihren Vater lebend wiederzufinden. Und doch, sie würde sich ein Leben lang Vorwürfe machen, wenn sie es nicht wenigstens versuchte.
Nachdenklich schaute sie aus dem Fenster. Zunächst schraubte sich das dampfende Eisenungetüm aus der fruchtbaren Küstenniederung hinauf in die Felswände des Tell-Atlas. Die Gleise schmiegten sich auf einem schmalen Gebirgspfad eng an die steil abfallenden Wände, sodass ein Blick aus dem Coupéfenster Désirée bereits schwindelig machte. Diese Eisenbahntrasse war eine Meisterleistung der Ingenieurkunst.
Sie musste an Philippe denken. Ganz sicher leistete er auch meisterhafte Arbeit in seinem Bergwerk, und sie war stolz auf ihn. Ja, sie verspürte wieder dieses leise Nagen des schlechten Gewissens, ihn hintergangen zu haben. Sie war geradlinig und wahrheitsliebend. Umso mehr belasteten sie diese Heimlichkeiten.
Auf der anderen Seite rechtfertigte sie sich vor sich selbst. Die Umstände ließen es leider nicht zu, ehrlich zu sein. Sie musste zu diesem kleinen Trick greifen. Sie schob es auf Philippes übertriebene Sorge und Liebe zu ihr, dass er sie an dieser Expedition zu hindern versuchte. Und Désirée wollte ihn nicht unnötig in Sorge versetzen.
So ihr Gewissen beruhigt, wandte sie sich wieder Madame Chabrol zu. Die Konversation über diese geheimnisvollen Tuareg hatte sie nur noch neugieriger gemacht.
Doch ehe sie sprechen konnte, wurde sie nach vorn geschleudert. Der Zug stoppte scharf unter durchdringendem Pfeifen. Peinlicherweise landete sie genau zwischen den Knien von Monsieur Chabrol, während seine Gattin unsanft gegen die Coupéwand prallte.
»Wir stürzen ab«, kreischte sie in Panik.
Monsieur Chabrol half Désirée mit einem Lächeln wieder auf die Beine. Sie strich sich den Rock glatt. »Pardon, Monsieur, es geschah nicht in Absicht.«
Monsieur Chabrol nickte zunächst Désirée aufmunternd zu, um dann seine Frau zu beruhigen. »Aber du siehst doch, dass der Zug steht, chérie. Also beruhige dich bitte.«
»Vielleicht ist das Gleis gebrochen«, jammerte nun Madame Chabrol. »Ganz sicher haben diese Araber die Schienen nicht richtig verlegt.«
»Unsinn«, knurrte Monsieur Chabrol. »Es ist nicht der erste Zug, der hier entlangfährt. Es wird gleich weitergehen.«
Doch es ging nicht weiter. Draußen wurden erregte Rufe laut. Dann wurde die Coupétür aufgerissen. Mehrere in Lumpen gekleidete Kabylen stürmten herein und bemächtigten sich des Gepäcks der Passagiere.
Die Reisenden riefen um Hilfe, Monsieur Chabrol hämmerte mit den Fäusten auf die Räuber ein, und Madame Chabrol fiel in Ohnmacht. Die beiden führten umfangreiche Koffer mit sich, die die Räuber kaum zur Tür hinausbugsieren konnten. Einer zog, der andere schob, und der dritte stand den beiden anderen im Weg.
Im ersten Moment war Désirée fürchterlich erschrocken. Als sie jedoch bemerkte, wie unprofessionell die Räuber zu Werke gingen, stieg ein glucksendes Lachen in ihr empor. Zunächst wollte sie es unterdrücken, aber es gelang ihr nicht,
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