Im Bann seiner Küsse
verlassen. »Verstehst du nicht? Ich zögerte. Ich erstarrte. Während des Kampfes. Meine Feigheit tötete meinen Bruder.«
»Wie alt warst du?«
»Alt genug, um es besser zu wissen.« Er sah weg und starrte unverwandt in die goldene Flamme der Kerze.
»Okay«, sagte sie leise.
Er runzelte die Stirn und sah sie an. »Okay was?«
»Okay, du hast also dreißig Sekunden gewartet. Vielleicht warst du sogar ein Feigling. Aber du hast deinen Bruder nicht getötet.«
»Aber ... aber ich habe ihn auch nicht gerettet.«
Tess stieg über ihn, setzte sich auf seinen Schoß und legte ihre Röcke um ihre Beine. Sie umfasste ganz fest seine Schultern. »Gut, du hast ihn nicht gerettet. Aber begreifst du denn nicht, dass dies mit seinem Tod nichts zu tun hat?«
»Das ist Haarspalterei. Ich ...«
Sie schüttelte ihn und sah ihn eindringlich an. »Das ist keine Haarspalterei.«
Er erhaschte einen Schimmer von dem, was sie meinte. Mehr war es nicht, nur eine glänzende Reflexion, aber einen Herzschlag lang spürte er ... vielleicht.
Sie sah die flüchtige Hoffnung in seinem Blick und nickte. »So ist es richtig. Denk darüber nach.«
Er atmete in einem müden Seufzer aus. So lange hatte er das Schlimmste von sich geglaubt, dass er sich nicht vorstellen konnte, die Dinge anders zu sehen. »Ich weiß nicht...«
»Schon gut«, sagte sie leise, »zum Nachdenken hast du viel Zeit.« Sie glitt von ihm herunter und landete zusammengekauert auf dem Boden neben ihm. Ihre Wange drückte warm gegen seinen Arm.
Die Wahrheit überwältigte Jack wie eine mächtige Woge. Lissa war noch immer da, lächelte ihm zu, berührte ihn, liebte ihn. Er hatte ihr die Wahrheit gesagt, und sie war noch immer da. Eine Freude, wie er sie noch nie empfunden hatte, erfüllte ihn bis in die Seele.
Erleichtert und mit geschlossenen Augen ließ er sich gegen die Wand sinken. Er legte den Arm um sie und zog sie an sich, so eng, dass sie zu verschmelzen schienen. Ihre leisen, sanften Atemzüge vermischten sich und verliehen der modrigen alten Scheune einen Hauch Leben.
Jack spürte, wie die Angst, die sein Gemüt so lange im Griff gehabt hatte, sich lockerte und die ersten gleißenden Hoffnungsfäden ihn durchzogen. Sie hatte Recht. Es hatte tatsächlich geholfen, darüber zu reden. Zum ersten Mal, seitdem er in jenem grässlichen, stickigen Krankenzimmer erwacht war, fragte Jack sich, ob er wirklich fähig war, sich selbst zu helfen, sich vielleicht sogar selbst zu heilen.
Er strich ihr übers Haar. Unvermittelt fing er wieder an zu sprechen und teilte mit ihr, was er noch mit keiner Menschenseele geteilt hatte. »Danach ... wachte ich in einer Art Krankenanstalt für Irre und Feiglinge auf. Man sagte mir, dass ich dort Jahre damit verbracht hätte, die Decke anzustarren und zu schreien. Dann kam ich eines Tages zu mir. Die Ärzte sagten, ich solle nicht an das denken, was ich in Antietam gesehen hätte, und stopften mich mit Laudanum voll.
Nach Kriegsende öffneten sich die Tore, man ließ uns gehen. Monatelang irrte ich umher, bis ich schließlich nach Hause fand. Meine Familie ... und du ... ihr hieltet mich auch für einen Feigling.«
Tess drehte sich um und nahm sein Gesicht zwischen die Hände, ganz behutsam, wie etwas Zerbrechliches. »Wir hatten uns geirrt, Jack. Und ob du es glaubst oder nicht, Jack, auch du hattest dich geirrt.«
Auf ihre leise und unter Tränen gesprochenen Worte hin spürte Jack, dass sich in seinem Inneren etwas auflöste, etwas Verknöchertes, Hässliches und Beängstigendes. Und in jenem Moment im nach Heu duftenden Halbdunkel einer alten Scheune wusste Jack, dass er noch eine Chance bekommen hatte.
»Ich liebe dich, Lissa.«
Am nächsten Morgen schliefen Tess und Jack sehr lange und erwachten erst, als an die Tür geklopft wurde.
»Mama?«, sagte Savannah. »Bist du wach?«
Tess lächelte träge und kuschelte sich näher an Jack. »Sind wir das?«
Er legte einen Arm um ihre Schulter, zog sie an sich und drückte ihr einen langsamen, innigen Kuss auf die Lippen. »Leider sind wir es.«
»Kommt herein, Kinder«, rief sie.
Die Tür ging auf. Savannah und Katie sprangen herein und blieben vor Staunen wie angewurzelt stehen. »Daddy!«
Jack setzte sich auf und strich sich eine schmutzige Haarlocke aus der Stirn. »Hi, Kinder«, sagte er schmunzelnd.
Katie lief blindlings auf das Bett zu und warf sich in die Arme ihres Daddys.
Savannah blieb zögernd stehen, die Hände gefaltet. »Wir haben dich gestern
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