Im Bann seiner Küsse
Hand? Plötzlich fielen ihm die Spuren ein, die er in jener Nacht auf den weißen, zarten Handgelenken seiner Frau zurückgelassen hatte ... und die Winchester-Büchse, die in einem Winkel der Scheune gelehnt hatte. So fehl am Platz, so vergessen. Der Albtraum hatte so heftig zugeschlagen, so rasch, mit eiskalten Fingern, die sich um seinen Hals zu legen und ihn zu ersticken schienen. Er hatte nicht richtig denken können - er war nur seinen Gefühlen und seinem Impuls gefolgt. Während eines Blackouts verwandelte sich sein Verstand in einen Morast aus Angst und Dunkelheit und Verzweiflung. Vielleicht hatte er die Büchse in der Meinung genommen, er müsse Johnnys Mörder erschießen. Wer konnte wissen, was in seinem Kopf vorgegangen war?
Wer zum Teufel wusste es? Er selbst wusste nur, dass er Recht gehabt hatte, wenn er in all den Jahren nur das Schlimmste von sich gedacht hatte.
Er schloss die Augen und kämpfte gegen eine fast lähmende Flut von Bedauern und Trauer für die Familie Dwyer und das, was er ihr angetan hatte. Lieber Gott, vergib mir. Niemals wollte ich jemandem etwas tun.
Tess trat zu ihm und berührte ihn am Arm. »Jack, ist alles in Ordnung?«
Er wagte nicht, sie anzuschauen, aus Angst, seine Augen würden alles verraten: Angst, Furcht, Schmerz. Sogar einen winzigen, von Bedauern erfüllten Rest Hoffnung. Seine Stimme war tonlos und leblos wie das trockene Rascheln längst verdorrter Blätter. »Nein.«
Er löste seinen Arm aus ihrem Griff und wandte sich zum Gehen.
»Warte, Jack ...«
»Ich spanne den Wagen an. In einer Viertelstunde fahren wir«, sagte er, ohne innezuhalten.
Als Jack die Scheune betrat, spürte er jeden Schritt wie einen Hammerschlag bis ins Rückgrat. Sein Atem kam schnell und flach, die stoßweisen Atemzüge eines Menschen vor der endgültigen Explosion.
Mit erleichtertem Aufatmen ging er in die kühle Dunkelheit der Scheune und warf die Tür hinter sich zu. Endlich allein, sank er auf die Knie.
»Oh Gott.« Die Worte kamen als Seufzer der Verzweiflung über seine Lippen.
Er schloss die Augen, um zu beten, fand aber nicht die Kraft dazu. Als er langsam wieder die Augen öffnete, fiel sein Blick auf ein rotes Bündel in der Ecke neben seiner Werkbank. Angst trieb ihn taumelnd hoch. Seine Arbeitshose. Zitternd ging er zur Lumpenkiste und zog das zerfetzte, schmutzige Kleidungsstück heraus.
Das zerknüllte Baumwollgewebe verschwamm vor seinen Augen. Der getrocknete schwarze Fleck verwandelte sich einen Schwindel erregenden Augenblick lang in ein Meer von Rot, das den Stoff durchtränkte. Er blinzelte und umklammerte das Stück fester. Allmählich klärte sich seine Sicht, und der schwarze Fleck wurde wieder zu einer getrockneten Blutkruste, die sich deutlich vom Rest des Stoffes abhob.
Wessen Blut ist das?
Die schreckliche Frage schoss wieder durch seine Gedanken und löste eine Woge der Hilflosigkeit und Angst aus, so stark, dass seine Knie nachgaben. Eiseskälte kroch über sein Rückgrat und ergriff von seinem ganzen Körper Besitz. Wessen Blut?
Als er zu sich gekommen war, hatte er angenommen, es wäre sein Blut. Er blickte auf seinen zerkratzten, aufgeschürften Handrücken hinunter. Schorf zog sich in unterschiedlichen Formen mit Unterbrechungen von den Fingerknöcheln zum Handgelenk. Die Hand hatte geblutet. Das hatte sie. Und er hatte sie schützend an die Brust gedrückt. Genau dort, wo Blutspuren auf seinen Sachen waren.
Aber er glaubte es nicht. Tief im Inneren wusste er, was er immer von sich gewusst hatte. Er war zur Gewalt fähig, sogar zu Mord. Das Zusammentreffen war zu augenfällig: Er hatte am Tag des Mordes einen Blackout erlitten und war mit Blut an den Kleidern nach Hause gekommen. Alles, was Lissa zu ihm gesagt hatte, bedeutete nichts, weniger als nichts. Es hatte ihm eine Nacht verschafft, eine herrliche, von Lachen erfüllte Nacht, an die er sein Leben lang zurückdenken würde, aber nicht mehr.
Ein irrer Mörder wie er verdiente nicht einmal dies. Jetzt ging es nur mehr darum, seine Familie zu schützen, Frau und Kinder vor seiner schrecklichen, dunklen Seite zu bewahren. Wieder dachte er an die Abschürfungen an Lissas Handgelenken, an die hellen, bläulich gelben Abdrücke auf ihrer zarten Haut. Etwas mehr Druck, nur ein wenig mehr, und er hätte ihr den Knochen brechen können. Oder es wäre noch Schlimmeres passiert.
Er schluckte. Brechreiz lag scharf und bitter auf seiner Zunge. Er hätte sie verletzen können; er hätte sie alle
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