Im Bann seiner Küsse
Mit jeder rumpelnden, klirrenden Drehung der Räder wuchs Tess' Beklommenheit, deren Ursache sie nicht benennen konnte. Sie versuchte sich einzureden, dass es nur Entsetzen über das Verbrechen war, aber sie spürte, dass es daneben noch etwas anderes gab, etwas Dunkles und Gefährliches, das ihre Familie betraf. Etwas, das sie zu Tode ängstigte.
Als sie schließlich ankamen, herrschte Stille auf dem Schulhof, obwohl er gedrängt voll war. Jack lenkte den Wagen gekonnt mitten in die Masse von Menschen und Pferden und blieb am Zaun stehen. Viele Gesichter wandten sich ihnen zu. Niemand rief einen Gruß. Niemand winkte.
Tess warf Jack einen Seitenblick zu. Er saß kerzengerade da und starrte geradeaus. Der alte Stetson war tief in die Stirn gezogen, wie um sein Gesicht vor den Leuten zu schützen. Er hielt die Zügel mit geballten Fäusten. Sein Mund war ein verkniffener, bleicher Strich.
Er sah aus wie jemand, der kurz davor stand, die Fassung zu verlieren.
Sie berührte ihn. »Jack, bist du ...«
Er wandte sich zu ihr um und sah sie an. Der tiefe Schmerz in seinem Blick raubte Tess den Atem. Es war mehr als Verlust, mehr auch als Kummer: etwas Dunkleres, Tieferes, dem Entsetzen verwandter als der Trauer.
Er wollte etwas sagen, entschied dann anders und sprang vom Wagen. Die Mädchen folgten ihm.
Tess stieg aus und blieb neben Jack stehen. Caleb eng an sich gedrückt, starrte sie ihren Mann an, von einer merkwürdigen und schlimmen Vorahnung erfüllt. Etwas stimmte nicht. Etwas anderes und unendlich Gefährlicheres als Mord.
»Jack, ich ...«
Er drängte sich an ihr vorüber und eilte auf das Schulhaus zu, hoch erhobenen Hauptes, die Schultern steif.
Katie sah sie mit einem kleinen Achselzucken an und beeilte sich dann, mit Savannah und Jack Schritt zu halten. Tess blieb nichts anderes übrig, als ihnen nachzulaufen.
Die Familie traf auf den Stufen des Schulhauses wieder zusammen. Sie rückten wortlos enger aneinander und stärkten sich gegenseitig durch ihre Nähe. Mit einem stummen Blick versuchten sich die Mädchen Mut zu machen.
Jack sah niemanden an. Sein Blick hing an der geschlossenen Tür, seine Miene war ausdruckslos.
Sie gingen die Stufen hinauf und traten ein. Der Raum war zum Bersten voll. Die Menschen gestikulierten und redeten durcheinander. Einzelne Sätze und Wortfetzen, die über dem allgemeinen Lärm zu verstehen waren, ließen keinen Zweifel daran, was hier das Thema war.
»Was meinst du ...«
»Es ist grässlich, ich hörte ...«
»Indianer ...«
Plötzlich geriet der allgemeine Gesprächsstrom ins Stocken. Der Lärm sank zu einem Gesumm herab, ehe es ganz still wurde.
Die Leute drehten sich zu ihnen um, einer nach dem anderen. Gesichter erbleichten. Münder wurden schmal. Augen, deren Blicke Jack galten, wurden argwöhnisch zusammengekniffen.
Die Erkenntnis traf Tess wie ein Schwall Eiswasser. Sie glauben, dass er die zwei Menschen getötet hat. Ein Blick zu Jacks ernstem, reglosem Profil verriet Tess, dass er es auch wusste. In seinen Augen aber lag noch etwas anderes, etwas so Beängstigendes, dass es ihr die Sprache raubte. Schuldbewusstsein.
Gestern. Die Erinnerung an Minervas Worte durchzuckte sie wie ein Blitz und ließ sie wie angewurzelt stehen bleiben. Minerva hatte gesagt, der Mord sei gestern oder vorgestern begangen worden. Gestern war Jack auf der Insel umhergestreift, ohne Erinnerung daran, was er getan hatte.
Tess wurde von Angst erfasst. Zum Teufel mit der Meinung der Leute, aber Jack selbst glaubte, er hätte die Dwyers ermordet.
Sie drückte eine Hand auf den Mund, um ein leises Schluchzen zu unterdrücken. Sie wollte etwas sagen, irgendetwas, um die nackte, erbarmungslose Härte in seinem Gesicht zu mildern, aber ihr fehlten die Worte. Es gab nichts zu sagen. Er würde ohnehin nicht auf sie hören.
Es würde nie genügen, wurde ihr mit einer für sie ungewohnten Anwandlung von Wut klar. Auch wenn sie ihn immer liebte, in alle Ewigkeit, würde es nicht reichen, wenn er nicht selbst an sich glaubte.
»Also, Leute, fangen wir an«, rief eine Stimme im Vordergrund.
»Was weißt du, Ed?«, schrie jemand.
Der Mann im Vordergrund gebot mit erhobener Hand Ruhe. »Noch nicht viel, Charlie. Wie ihr alle wisst, hat man Henry und Seiina Dwyer heute ermordet aufgefunden. Alles deutet darauf hin, dass sie gestern am Morgen getötet wurden. Vielleicht schon vorgestern.«
»Wer war es?«, fragte jemand aufgebracht.
Ed zog die Schultern hoch. »Das wissen wir noch
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