Im Bann seiner Küsse
nicht, Will. Mit Sicherheit wissen wir nur, dass der Mörder Schuhe der Größe sieben mit sieben Nagelreihen in der Sohle trug. Im Vorratskeller der Dwyers fand ich noch ein interessantes Beweisstück. Ich habe einen Sonderermittler aus Victoria angefordert, der uns unterstützen soll.«
»Was können wir tun?«
»Falls jemand etwas Ungewöhnliches sah oder hörte, soll er sich bei mir melden. Versucht euch an die Zeit nach dem Unwetter zu erinnern. Die anderen können nach Hause gehen und dort bleiben. Und verschließt die Türen gut. Ein Mörder läuft frei herum - und es könnte einer von uns sein.«
Die Rückfahrt schien kein Ende nehmen zu wollen. Die Familie saß schweigend da, von dunklen Strömungen umgeben, die sie mit einem Gefühl drohenden Unheils einhüllten.
Tess saß stocksteif, die Hände im Schoß gefaltet. Hin und wieder warf sie Jack einen Seitenblick zu, und jeder war wie ein Stich ins Herz. Auch er saß ganz aufrecht, den Blick nach vorne gerichtet. Kummer schuf um Mund und Augen ein Netzwerk von Falten und ließ ihn um Jahre älter aussehen.
Zu Hause angekommen, legte Tess Caleb ins Bett, scheuchte dann die Mädchen zusammen und brachte sie in ihr Zimmer. Ein Blick in ihre angstvollen Augen, und sie geriet so in Rage, dass sie am liebsten laut geschrien hätte. Sie sagte kein Wort. Ehe sie nicht mit Jack gesprochen hatte, gab es für sie nichts zu sagen.
»Gute Nacht, Mama«, sagte Savannah tonlos.
»Ja«, murmelte Katie.
Tess zog sie in einer langen Umarmung zu sich, dann gab sie ihnen einen Kuss und sah zu, wie sie gemeinsam ins Bett krochen.
»Und unser Abendgebet?«, fragte Katie leise.
Tess rang sich ein tröstendes Lächeln ab. »Heute nicht, Schätzchen. Ich muss mit ... eurem Daddy sprechen.«
»Sag ihm, dass wir ihn lieb haben«, flüsterte Savannah.
Die leisen Worte eines Kindes, jedoch mit der Angst einer Erwachsenen geäußert, waren fast mehr, als Tess ertragen konnte. Sie brachte nur ein Nicken zustande.
»Gute Nacht, Kinder.«
Damit drehte sie sich um und schloss hinter sich die Tür. Dann ging sie zur Scheune. Sie brauchte einen Moment, um sich zu fassen, ehe sie sich zielstrebig und hoch erhobenen Hauptes auf den Weg machte.
Sie würde nicht zulassen, dass Jack wieder den Rückzug antrat. Sie waren zu weit gekommen, um wieder umzukehren.
Ihre guten Vorsätze gerieten jedoch ins Wanken, als sie sich der Scheune näherte. Unschlüssig verlangsamte sie ihren Schritt. An der Tür hielt sie inne. Licht drang durch den dunklen Spalt der Tür, die ein wenig offen stand, und glitt als goldene Schlangenlinie über ihren Rock. Von innen waren Jacks schwere Atemzüge zu hören.
Das Geräusch machte ihrer Unschlüssigkeit ein Ende und verlieh ihr neue Energie. Jack war drinnen, allein, und er litt. Wieder hob sie den Kopf und schlüpfte hinein.
»Steh mir bei, lieber Gott.« Jacks Stoßgebet war ein hartes, gequältes Stöhnen. »Bitte ...«
Trauer senkte sich bleischwer in Tess' Herz, als sie ihn traurig und verlassen an der Werkbank stehen sah. Er kehrte ihr den Rücken zu, aber sie brauchte sein Gesicht nicht zu sehen, um von der Angst in seinen Augen zu wissen. Das Gefühl sprach aus jeder Faser seines Körpers, aus der starren Haltung und seinen heiseren, abgehackten Worten. Und sie sah den zerdrückten roten Stoff, der vor ihm ausgebreitet war. Das getrocknete Blut verlief als schwarzer Fleck quer über die Knopfleiste. Neben der Hose stand ein Paar schmutziger Arbeitsstiefel. Größe sieben, wie Tess wusste.
Jack hatte die Beweise gesammelt, mochten sie noch so spärlich sein, und sprach über sich das Urteil.
»Bitte«, flüsterte er wieder. »Bitte ...«
Tess spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog. Tränen brannten ihr in den Augen.
Sie konnte die spontanen, von Schmerz erfüllten Gebete so gut verstehen, konnte sich an den Ton erinnern - rau vor Not und leise vor Sehnsucht. Sie hatte die Worte selbst Tausende Male gesprochen, nur hatte niemand sie vernommen. Für den Rest der Welt waren Tess' Gebete nur fruchtlose Lippenbewegungen eines stummen Mädchens. Niemand hatte sie gehört. Niemand außer Gott.
Sie wusste, was Jack empfand, wusste es mit einer Gewissheit, die sie nicht mehr verwunderte. Irgendwie waren sie verbunden, sie und Jack, und sie kannte ihn in gewisser Hinsicht so gut wie sich selbst. Sie wusste und verstand. Er war voller Angst, verzweifelt, einsam.
Dabei war Einsamkeit das Schlimmste, weil sie alles noch beängstigender und
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