Im Bann seiner Küsse
auszuarbeiten. Irgendetwas. Ich kann nicht tatenlos dasitzen, während er für ein Verbrechen, das er nicht beging, hinter Gittern sitzt.«
Minerva senkte den Blick. Lange starrte sie nachdenklich in ihren Kaffee. Dann schaute sie wieder auf. »Es tut mir Leid, Lissa.«
Tess biss sich auf die Unterlippe, um zu verhindern, dass sie zitterte. Sie stand mühsam auf. »Tja ...« Ihre Stimme war tränenerstickt, sie räusperte sich. »Wenn Ihnen etwas einfallen sollte ... ich bin zu Hause.«
Minerva stand auf. »Sicher wird er einsehen, dass er es nicht getan hat, und Ed die Wahrheit sagen.«
Tess nickte steif. »Gewiss haben Sie Recht.«
Doch als sie in Minervas bekümmerte blaugraue Augen sah, wurde Tess unsicher. Die Worte waren eine Lüge. Jack würde sein Geständnis niemals widerrufen.
Minerva öffnete die Arme, und Tess taumelte mit geschlossenen Augen vorwärts und ließ sich von der tröstenden Wärme ihrer Freundin umfangen.
Am nächsten Tag wurde Tess aus dem Schlaf gerissen, als jemand energisch an die Haustür pochte.
»Lissa! Aufmachen! Lissa!«
Tess stolperte aus dem Bett und warf ihren Morgenrock um die Schultern. Der Holzboden war eisig unter ihren bloßen Füßen, als sie unsicher durchs Haus tappte.
Wieder ertönte ein Pochen. Diesmal fester. »Lissa!«, rief eine Stimme.
»Ich komme schon.« Die Worte zwängten sich frühmorgendlich undeutlich und schleppend aus ihrem Mund. An der Tür hielt sie inne und rieb sich die müden, schmerzenden Augen, die noch verquollen und rot von der unruhigen Nacht waren. Mit einem aufgesetzten Lächeln öffnete sie die Tür.
Minerva, Jim und Ed Warbass standen auf der Veranda.
Tess stockte der Atem. Alles war nur ein Irrtum. Ihre Hoffnung flammte so jäh auf, dass ihr die Luft wegblieb. Dann blickte sie in Eds ernste Augen, und die Hoffnung schwand.
Minerva hielt Tess eine Flinte unter die Nase. »Das fand ich gestern in der Scheune.«
Tess strich eine Haarsträhne aus den Augen. »Ach ...« Sie betrachtete das lange, hässliche Gewehr. »Wie nett.«
»Es ist die Flinte von Benjamin und Harvey ...«
»Von unseren Jungen«, warf Jim ein.
Tess sah von Minerva zu Jim und zurück. Sie spürte, dass etwas im Gange war, etwas Wichtiges, aber sie war nach der durchweinten Nacht todmüde und nicht in Stimmung, etwas über die Waffe der Hannah-Söhne zu erfahren. »Sehen Sie, Minerva, ich ...«
Minerva tat ihren Protest mit einer ungeduldigen Geste ab. »Als Sie gestern fortgingen, musste ich ständig daran denken, wie sehr Sie und Jack und die Mädchen sich geändert haben ... deshalb wollte ich unbedingt helfen. Lange nachdem alle zu Bett gegangen waren, lag ich da und wälzte mich schlaflos hin und her. Immerzu ging mir im Kopf herum, dass ich etwas wüsste, etwas ganz Wichtiges, aber ich konnte nicht dahinter kommen, was. Ich wollte schon aufgeben, als mir einfiel, dass unsere Jungen Joe und Kie Nuanna eine Flinte geborgt hatten. Aus irgendeinem Grund wollte mir das nicht mehr aus dem Sinn. Die Flinte, die Flinte, musste ich ständig denken. Ich stand auf und zog mich an und durchstreifte das dunkle Haus. Über kurz oder lang war ich draußen in der Scheune und suchte die verdammte Flinte. Als ich sie fand und die Flecken am Kolben entdeckte, war mir alles klar, und mir fiel auch noch der fehlende Schrotbeutel ein.«
Minerva ging an Tess vorüber und setzte sich an den Küchentisch. Ed und Jim folgten. Dann starrten alle sie an, als warteten sie auf ihre Reaktion auf die erstaunliche Nachricht, dass ein Schrotbeutel verschwunden war.
Minerva legte die Schrotflinte auf den Tisch und schaute zu Tess auf. »Ich kann Ihnen ansehen, dass Sie sich fragen, warum wir hier sind und von einem verlorenen Beutel faseln. Ich selbst habe auch eine Weile gebraucht, bis ich mir alles zusammenreimen konnte. Wenn Sie die Geduld aufbringen, erkläre ich alles.«
Tess nickte. »Gut.«
»Joe und Kie hatten sich die Waffe schon öfter ausgeborgt. Keine große Sache also, und deshalb fiel es mir nicht eher ein. Einige Male brachten sie uns sogar ein Stück Wild mit. Und sie wussten, dass ich den Beutel als Weihnachtsgeschenk für die Jungen gemacht hatte. Je länger ich überlegte, desto merkwürdiger erschien es mir, dass sie sich nicht entschuldigt hatten, weil sie ihn verloren haben. Dann aber fiel mir der mögliche Grund ein.« Sie sah Tess vielsagend an. »Sie wollten nicht zugeben, dass sie ihn verloren hatten, weil sie wussten, wo sie ihn verloren hatten. Kaum war mir
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