Im Bann seiner Küsse
Unterlippe. Tränen brannten in ihren Augen, während sie neben ihrer Schwester dahinstolperte.
Ist doch völlig egal, was diese verdammten blöden Kinder denken.
Doch es war nicht einerlei. Es war wichtiger als alles andere.
An Savannahs Hand ging sie weiter, versuchte, erwachsen zu sein, versuchte, keine Angst zu haben.
Wenn sie nur nicht so dumm wäre. Dann wäre alles gut. Die Kinder würden sie nicht auslachen. Ihre Mama würde sie lieb haben. Die Lehrerin ...
»Sollen wir hineingehen?«
Savannahs Stimme riss Katie aus ihren Gedanken. Mit einem Ruck aufblickend sah sie, dass sie fast am Ziel waren. Angst schoss ihr wie Eiswasser ins Blut.
Sie wandte sich an ihre Schwester. »Mir ist nicht so gut, Vannah. Vielleicht sollte ich wieder nach Hause gehen.«
Savannah ging in die Knie und berührte die Wange ihrer Schwester. »Ach, Katie ...«
Die Kleine warf sich ihrer Schwester in die Arme. Savannah drückte sie fest an sich, strich ihr übers Haar und raunte ihr leise, beschwichtigende Koseworte zu.
Katie zog sich zurück und sah zu ihr auf. Sie kämpfte mit Tränen, die ihr in den Augen brannten, so dass vor ihr alles verschwamm. Aber nicht eine einzige entschlüpfte ihren Wimpern. Es war ein Trick, den alle Raffertys beherrschten. »Sch-schon gut.« Sie rieb die feuchten Hände am rauen Wollstoff ihres Rockes und drückte die von eine m Lederriemen zusammengehaltenen Schulbücher an die Brust.
Savannah stand langsam auf. Hand in Hand erklommen sie die knarrenden Stufen und öffneten die Schultür. Das müde Ächzen der Türangeln zog alle Blicke auf sich. Ein Dutzend kleiner Köpfe drehte sich in ihre Richtung.
Zitternd wich Katie zurück.
Savannah legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter und hielt sie fest. »Ich bin bei dir«, raunte sie.
Katie steuerte direkt auf ihren Platz zu. Die kleinen festen Absätze ihrer schweren Lederstiefel klapperten laut über den Dielenboden. Mit jedem Schritt ließ die ansteigende Kadenz des Gekichers ihrer Mitschüler ihr Selbstvertrauen sinken. Sie ging schneller, die Bücher an die Brust gedrückt, den Blick gesenkt.
Mit einem hörbaren Seufzer setzte sie sich auf ihren Platz und Savannah neben sie. Die tröstliche Körperwärme ihrer Schwester verlieh Katie den Mut, ihre Sachen auf den Tisch vor sich zu legen. Mit zitternden Fingern löste sie den Riemen und zog McGuffeys Erstes Lesebuch unter ihrem Rechenbuch hervor. Das kleine braune Bändchen war von der zerschrammten Holzfläche kaum zu unterscheiden.
Katie wünschte inbrünstig, es würde wirklich und wahrhaftig verschwinden.
Miss Arnes, die Lehrerin, klopfte scharf auf ihr Pult und stand auf. »Wir fangen mit lautem Vorlesen an.«
Katie drückte die Augen zu. Sie kreuzte die Finger auf ihrem Schoß und ballte dann die Fäuste. Bitte, rufe nicht mich auf Bitte, nicht...
»Susan Jacobs, fang an. Seite neun im Lesebuch.«
Katie atmete hörbar und erleichtert auf. Langsam öffnete sie die Augen und blätterte bis Seite neun. Sie starrte angestrengt auf das Papier und versuchte, mit Susan mitzulesen.
Es war unmöglich. Der schwarze Druck wirbelte und tanzte und wechselte ständig die Positionen. Buchstaben ohne erkennbare Bedeutung verschmolzen zu unsinnigen Wörtern und diese zu Sätzen, die keine waren. Kein einziges Wort, das Susan vorlas, erschien auf Katies Seite.
Wieder kamen ihr die Tränen. Was stimmte mit ihr nicht? Sie bemühte sich so sehr, mehr als jeder andere in der Schule. Allabendlich zog sie sich gleich nach dem Essen in ihr Zimmer zurück und studierte den Buchstabensalat in ihrem Lesebuch. Und immer versagte sie, und zwar kläglich, weil sie es nicht schaffte, auch nur ein Wort sinnvoll zu entziffern.
»Danke, Susan, das war sehr gut. Wie wäre es, wenn du jetzt weiterlesen würdest, Mary Katherine?«
Katies Kopf fuhr auf. Ein unausgesprochenes schmerzliches »Nein« kam über ihre Lippen.
Miss Arnes beugte sich leicht vor und wartete. Alle Mitschüler drehten sich nach Katie um.
Sie spürte Savannahs Hand an ihrem gebeugten Ellbogen und wusste, dass ihre Schwester sie trösten wollte. Doch es funktionierte nicht, nicht jetzt. Ihr war so kalt, dass sie nicht einmal die spärliche Wärme von Savannahs Berührung spürte.
Sie schluckte schwer und zwang sich, nach unten zu sehen. Die gelblichen Seiten verschwammen vor ihren Augen. Rasch zwinkerte sie und wischte die Tränen ab.
Diesmal kannst du es. Du kannst es.
Sie starrte das erste Wort unverwandt an: d-r-e.
Panik
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